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Zwischen den Mühlsteinen

Die arabisch-islamische Welt ist in der Krise. Der Nahost-Experte Rainer Hermann erklärt, was das für die Christen in der Region bedeutet.
Arabisch-islamische Welt ist in der Krise
Foto: dpa

Herr Hermann, vor hundert Jahren war der Nahe Osten viel vielfältiger als heute. Christen waren kulturell tonangebend. Sie machten teilweise bis zu 30 Prozent der Bevölkerung aus. Was ist zwischenzeitlich passiert?

Es ist wahr, die Christen waren der Sauerteig der orientalischen Gesellschaft mit ihren Schulen und ihrer Bildung. Sie waren die Träger der arabischen kulturellen Erneuerungsbewegung „Nahda“ im 19. Jahrhundert. Sie standen an der Spitze des Fortschritts, wenn Sie so wollen. Das hat sich in der Gegenwart verändert.

Warum?

In der Zwischenzeit hat die arabisch-islamische Welt eine gescheiterte Moderne erlebt. Anfang des 20. Jahrhunderts wollte man den überlegenen Westen kopieren. Es begann nach dem Untergang des Osmanischen Reiches, als Atatürk glaubte, nur ein starker Staat könne den Abstand zum überlegenen Westen aufholen. Für eine freiheitliche Gesellschaft blieb kein Platz mehr. Westliche Fassaden wurden errichtet, aber dahinter standen autoritäre Staaten. Das galt in vielen Staaten, in Ägypten ebenso wie in Syrien und dem Irak.

Alles wurde dem einen Ziel untergeordnet, dem Westen durch eine kulturelle Homogenisierung die Stirn zu bieten. Die Folgen sind bis heute spürbar: In der Endphase des Osmanischen Reichs waren noch 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung Anatoliens christlich, heute sind es weniger als ein Promille.

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Dazwischen lag ein Genozid.

Ja, aber der war ja nicht islamisch motiviert, sondern nationalistisch. Seit Atatürk gilt: Ein guter Türke muss ein sunnitischer Muslim sein. Bereits bei den Jungtürken, die den pan-islamisch orientierten Sultan Abdülhamid II. abgesetzt hatten, stand der türkische Nationalismus im Vordergrund. Die intellektuellen Armenier in Istanbul standen der totalen Gleichschaltung im Weg und wollten weiterhin den Vielvölkerstaat. Sie waren quasi die letzten Osmanen.

Aber die örtlichen Handlanger des Völkermords waren oft voller Ressentiments gegen Christen. Gibt es diese anti-christlichen Vorurteile nicht bis heute?

Ja, die Machthaber konnten und können mit solchen religiösen Gefühlen spielen. Für die Mobilisierung ist die Religion bestens geeignet. Aber die Köpfe des Genozids orientierten sich an einem westlichen Nationalstaatsmodell mit totaler kultureller, ethnischer und religiöser Homogenität und waren nicht religiös motiviert.

Ist der autoritäre Nationalismus allein das Problem für die orientalischen Christen? Als Antwort auf den überlegenen Westen formierte sich 1928 in Ägypten auch die Muslimbruderschaft. Diese glaubte und glaubt an eine islamische Renaissance der Region. Waren die säkular orientierten Christen damit nicht natürliche Feinde?

Das kommt darauf an. Die Christen als Bannerträger der Moderne haben immer Wert darauf gelegt, dass es ein Staatsbürgerschaftsverständnis gibt, bei dem alle vor dem Gesetz gleich sind. Das zieht sich durch die letzten 200 Jahre. Die Christen haben sich, bis auf den Sonderweg im Libanon, dem Konfessionalismus entgegengestellt. Das Drama der Christen heute liegt aber darin begründet, dass sie entgegen ihrer liberalen Tradition nun an der Seite von autoritären Regimen stehen. Denken Sie besonders an Syrien und Ägypten. Die Christen sind Stützen Sisis und Assads.

Aber haben sie eine andere Wahl? Die Alternativen zu diesen Herrschern wäre in Ägypten der politische, in Syrien sogar der dschihadistische Islam a la IS.

Das ist wahr. Aber damit geht eben die Sauerteigfunktion verloren, wenn sie zum Fürsprecher autoritärer Regime werden. Zudem muss man bedenken, dass in Ägypten die Muslimbrüder 2012 versucht haben, die Christen in den Verfassungsprozess einzubinden. Die Christen haben sich dem aber entzogen und sich mit Sisi verbündet.

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Dafür haben sie bezahlt. Dutzende Kirche gingen im August 2013 in Flammen auf, nachdem sich Kopten-Patriarch Tawadros auf Sisis Seite gestellt hatte.

Aber sind Sie sicher, dass es die Muslimbrüder waren?

Wenn nicht direkte Kader selber, dann wenigstens Sympathisanten. Das behaupten jedenfalls die örtlichen Christen und die ägyptische Regierung.

Der kann man nicht trauen. Die ägyptischen Sicherheitskräfte sind bekannt dafür, dass sie Misstrauen zwischen den Christen und dem politischen Islam schüren wollen. Nehmen Sie den Anschlag auf die Kirche in Alexandria an Neujahr 2011. Das hat man den Islamisten in die Schuhe geschoben. Bald kamen aber Dokumente zum Vorschein, die belegten, dass es die Sicherheitsorgane selber waren, um die Christen an das strauchelnde Regime Mubarak zu binden. In Syrien ist es ähnlich. Die Minderheiten – Alawiten, Christen, Drusen und Ismaeliten – stehen zusammen gegen den sunnitischen Islam und beäugen ihn misstrauisch.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind die Christen selber schuld, dass sie zum Ziel von Islamisten werden, weil sie sich mit den Regimen verbünden?

Nein, das will ich nicht sagen. Aber die Christen neigen dazu, sich vorschnell auch mit zweifelhaften Regimen zu verbünden, ohne Alternativen überhaupt nur eine Chance zu geben. Und man muss historisch sehen, dass es erst die Etablierung autoritärer Diktaturen wie der Saddams war, die zu militanten islamistischen Antworten geführt hat.

Durch die Parteinahme kamen eben auch Christen in die Schusslinie. Die Christen waren und sind sekundäre Ziele. Mir ist jedenfalls keine islamistische Bewegung bekannt, die sich zunächst auf die Christen fokussiert hätte und dann erst auf die als unislamisch gebrandmarkten Regime wie das Nassers, Saddams et cetera. Das ist übrigens bis heute so: Die Masse der Opfer islamischen Terrors sind Muslime. Bis zu 98 Prozent. Es ist in erster Linie ein innerislamischer Konflikt um die Auslegung des Islams.

Und die Christen geraten zwischen diese Mühlsteine.

Exakt. Aus christlicher Sicht ist es dabei verständlich, dass sie sich – vor die Wahl gestellt zwischen einer auf dem Islam basierenden Ordnung oder einer säkularen – für letztere entscheiden. Das Problem ist allerdings, dass diese säkularen Regime irgendwann autoritär wurden, und die Christen das nicht ändern konnten oder wollten, jedenfalls bei der Stange geblieben sind. Verschärft hat sich dieser Konflikt vor allem seit dem Krisenjahr 1979, als der von den USA gestützte Schah stürzte, als in Mekka die Große Moschee von Dschihadisten gestürmt wurde und als die Sowjets in Afghanistan einmarschierten.

Darauf reagierte Saudi-Arabien mit einem verstärkten Export seines radikalen wahabistischen Islam?

Das ist richtig. Aber gerade aus Saudi-Arabien kommen heute erste Signale des Umdenkens. Der neue Generalsekretär der in Mekka ansässigen Muslimischen Weltliga, Muhammad bin Abdul Karim Issa, legte den Begriff des Kafir, der so viel Unheil angerichtet hat, mir gegenüber so aus: Kafir bedeutet nicht ungläubig, sondern andersgläubig. Daran sieht man, dass ein Umdenken einsetzt.

In Saudi-Arabien hat man erkannt, dass der wahabitische Islam viel Konflikt in die Welt gebracht hat. Der neue Generalsekretär fragte Anfang Dezember vor einem großen saudischen Auditorium, was die Ursache der Islamophobie sei. Lange Pause: „Wir Muslime selbst.“ Das sind schon neue Töne. Das heißt: „Wenn wir Muslime uns nicht ändern, wird die Islamophobie anhalten.“

Ist das schon mehrheitsfähig?

Nein, aber es ist eine neue Entwicklung. Vor zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber für viele Christen ist das meistens schon zu spät. Es wird lange dauern, bis das Gift, das der arabischen Welt injiziert wurde, neutralisiert sein wird.

Es gibt angesichts des IS-Terrors seitens der Führung in mehreren arabischen Ländern Aufrufe zu Koexistenz und Mäßigung. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa ließen den Papst eine öffentliche Messe feiern, die erste auf der Arabischen Halbinsel. Auch Ägyptens Präsident Sisi ruft die Azhar-Universität zu einer Reform des Islam auf.

Das stimmt. Sisi geht als erster Präsident in die Weihnachtsliturgie der Kopten. Das ist ein bedeutendes Signal. Und ja, er ruft zur Reform des Islam auf. Aber wenn er damit die Azhar-Universität beauftragt, verliert sie an Glaubwürdigkeit, weil ihr Auftrag dann ein politischer ist. Aber es stimmt, es mehren sich die Stimmen, die eine Reform von oben wollen. Selbst der saudische Kronprinz versucht das.

Dieser Entwicklung von oben korrespondiert eine Entwicklung von unten. Im Libanon und im Irak gehen Menschen auf die Straße und rufen nicht „Der Islam ist die Lösung“.

Ja, das ist neu. Im Libanon und im Irak erleben wir derzeit eine neue Welle von Protestbewegungen im Zuge der arabischen Umwälzungen. Die Menschen, in der Masse Muslime, wollen weg vom Konfessionalismus und hin zu funktionierenden Nationalstaaten. Das ist sehr ermutigend. Allerdings sprechen wir hier von sehr langen Umwälzungen. Die Jugend will den konfessionellen Staat nicht mehr. Aber sie hat mächtige Gegner, die schiitischen Milizen im Irak zum Beispiel. Derzeit ringen viele Akteure miteinander um die Zukunft der arabischen Welt.

Ein Ringen mit offenem Ausgang?

Das Ringen um die Seele der islamischen Welt ist in vollem Gange. Erschwert wird es durch düstere ökonomische Prognosen. Eine funktionierende Wirtschaft und eine (Rechts-)Staatlichkeit zeichnen sich nicht ab. Im Gegenteil. Die nächsten Eruptionen deuten sich an, schon allein aufgrund der explodierenden Demografie. Das ist ein Problem für alle Menschen der Region, nicht nur die Christen.

Die sind als Minderheit aber besonders verwundbar. Wie geht es für die Christen weiter?

Die Prognose ist, dass der Exodus weitergeht, je nach Land natürlich unterschiedlich schnell. Neulich traf ich den maronitischen Erzbischof von Aleppo. Der meinte, dass 2011 noch 175 000 Christen in Aleppo gelebt hätten, heute sind es 35 000. Gegangen sind die Jungen, geblieben sind die Alten und die Armen. Das gilt für ganz Syrien. Insgesamt gilt, wenn es keine funktionierenden Staaten gibt, gibt es auch keine christliche Zukunft. Und das unabhängig davon, ob der Islam Christen anfeindet oder nicht. Von dem Verfall und den Kriegen sind alle betroffen, Christen wie Muslime.

 

Zur Person

Rainer Hermann, geboren 1956, hat als Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation aus Kuweit und Istanbul berichtet, als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung später auch aus Abu Dhabi. Seit 2012 lebt er wieder in Deutschland und beobachtet für die Politikredaktion der FAZ vor allem die Türkei, den Nahen Osten und die gesamte islamische Welt.

Zuletzt erschienen ist von ihm 2018 „Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten“ (Klett-Cotta).

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