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Markus Günthers Roman „Pieta“

Markus Günther fällt im Roman „Pieta“ die Riesen der existenziellen Angst und feiert die Liebe.
Markus Günther.P. Badde
Foto: Foto: | Subtil: Markus Günther.P. Badde

Es ist wieder da: das Bewusstsein des Todes. Die Angst und die Fragen, die für jeden Menschen dazugehören, wenn es um den Abschied von dieser Welt geht. Den Übergang, das Ende. Je nachdem, was man glaubt. Auch der Protagonist des neuen Romans von Markus Günther, Lutz Brokbals, wird im Laufe seines Heranwachsens mit der Realität des Todes konfrontiert. Schon vor und während der Geburt spürt der sensible Junge den Schatten der Vergänglichkeit um sich. „Durch die sterbende Großmutter und die toten Brüder war mir der Tod schon sehr nahe gewesen, lange bevor ich den ersten eigenen Schritt getan oder das erste Wort gesprochen hatte, bevor ich wusste, was Freud und was Leid ist, ja genau genommen bevor ich überhaupt, wie es formelhaft und etwas kitschig heißt, das Licht der Welt erblickt habe.“

Auf dem von den Mariannhiller Missionaren in Maria Veen (Reken) geleiteten Internat hat Brokbals weitere Erlebnisse. „Der erste Tote, den ich sah, war Pater Gerwald.“ Dabei bleibt es nicht. Der Vater eines Schulfreundes stirbt, ein Mitschüler verunglückt. Dennoch: „Todesfälle in der Halbdistanz sind wie Streifschüsse – oder wie beunruhigende Geräusche, die mal leiser und mal lauter zu hören sind, aber auf nichts hindeuten, was in unmittelbarer Nähe geschieht oder jetzt und hier ernste Sorgen bereiten müsste“, weiß der kluge Denker und Beobachter, der in dem 256 Seiten starken Text als Ich-Erzähler fungiert. Und so lernt er, wie es sich für eine „Coming of age“-Geschichte gehört, auch die angenehmen Erfahrungen des Lebens und des Liebens kennen. Besonders die attraktive Renate hat es ihm angetan. Sie fotografiert er. Sie wird sein Lebensinhalt, seine Religion. „Das Kreuz aus Kevelaer mit dem handgeschnitzten Corpus, das ich zu meiner Firmung geschenkt bekommen hatte und das über der Tür im Wohnzimmer hing, nahm ich ab und legte es bäuchlings oben auf den Kleiderschrank. An seine Stelle trat eines meiner besten Fotos, wie ich fand, eine Schwarzweißaufnahme, die Renate in einer übermütigen Pirouette zeigte, bei der sich ihr weißer Rock rasch drehte und an den Rändern leicht hob, ihr Gesicht aber inmitten dieser dynamischen Unschärfen gestochen scharf und ganz unbewegt war, mit einem festen, ernsten Blick in die Kamera, großen Augen und einem leicht geöffneten Mund.“ Allein – irgendwann wendet sich Renate von ihm ab, die Liebe ist erloschen. Sie will nichts mehr von ihm wissen. Nur schwer kann Lutz Brokbals diese Lektion des Abschieds, die natürlich auch etwas mit Sterben- und Loslassen-können zu tun hat, verkraften.

Eine Erzählung auf hohem stilistischen Niveau

Immerhin: Im Studium findet er durch die Begegnung mit einem Geschichts-Professor einen wichtigen Schlüssel, wie er dieses komplizierte Leben bewältigen kann – durch Mitteilung, durch Erzählung. Denn, warum sollte das, was für die Geschichte der Menschheit wahr ist, nicht auch für eine einzelne Person stimmen? „Das Unerzählte ist vom Ungeschehenen nicht zu unterscheiden... Was geschieht, kann sich nur behaupten, indem es sich mitteilt.“ Dank dieser Einsicht wird Brokbals, der passionierte Jogger, der sich nach dem wahren Heldentum sehnt und dafür auch Schläge kassiert, zum Tagebuch-Autor. Er hält fest, was geschehen ist, um der Zeit, die alles wegträgt, etwas entgegenzuhalten: Worte. Existenz. Sein.

Mit dieser Einstellung verliert auch ein Zeitungs-Volontariat in Frankfurt seine vordergründige Bedeutung, weil es Dinge gibt, die Brokbals zu etwas Tieferem führen, als es der Journalismus zu tun vermag. Zwei Schüsse treffen ihn persönlich: Der Verlust von Vater und Mutter innerhalb eines halben Jahres. Detailliert, nüchtern und doch nicht kalt, so wie schon in seinem Roman-Erstling „Weiß“, beschreibt Markus Günther die inneren und äußeren Vorgänge des Protagonisten. Ohne falsches Pathos. „Wir legten seine Hände über dem Bauch zusammen, ohne sie zu falten, weil er auch selbst die Hände nie im Leben gefaltet hat. Unter die Ellbogen legten wir links und rechts zwei Kissen, weil die Arme sonst immer wieder herunterrutschten. Ich wollte ihm mit einer Binde das Kinn hochbinden, so dass der Mund geschlossen war. Aber es ging dann auch mit einer kleinen Handtuchrolle, die ich ihm unters Kinn drückte. Ich stupste mit zwei Fingern auf seinen Lippen herum, bis sie natürlich aufeinander lagen. Jetzt war alles getan.“

Dass dennoch vom ersten bis zum letzten Satz in dem autobiographisch gefärbten Roman eine religiöse Dimension mitschwingt, drückt dezent der Titel aus: Pieta. Eine Anspielung auf eine Predigt, gehalten von einem Pater des Internats, die der Erzähler nicht vergessen hat. „Pieta. Sie will uns mit dem Leben und mit dem Tod versöhnen. Pieta. Liebe und Tod in einem Bild, in einem Augenblick.“

Dass Brokbals in der Zeit des elterlichen Sterbens nicht in eine Depression abgleitet, verhindert auch eine Frau. Die attraktive und gläubige Michaela, deren „zutrauliche Wimpernschläge“ ihn früh und richtig ahnen lassen, dass sie seine zukünftige Ehefrau sein könnte. Die Waage des Glücks – sie scheint tatsächlich in einem geheimnisvollen Gleichgewicht zu schweben. Ohne Willkür, ohne Zufall. „So wie es falsch ist zu glauben, das Leben allein mit Willenskraft bezwingen und bewältigen zu können und dadurch die Willkür zu brechen, so wird das Wesen der Lebensläufe ebenso verkannt, solange in ihnen nur der Zufall am Werke zu sein scheint. Es wirken andere, unverfügbare Kräfte im Leben. Sie sorgen dafür, dass nichts, was geschieht, folgenlos bleibt, dass sich Ereignisse und Erfahrungen auch ganz ohne menschliches Zutun verbinden und verflechten, wenn erst einmal die Zeit ihr Werk verrichtet hat.“

Und: Wusste nicht schon Ernst Jünger, dass die Todesfurcht die Mutter aller Ängste ist? Dass derjenige, der sie überwindet, in die wahre, umfassende Freiheit tritt? „Dann wird er die Riesen fällen, deren Rüstung der Schrecken ist.“ Lutz Brokbals gelingt dies. Er fällt die Riesen. Auf seine ganz eigene Weise. Indem er es geschehen lässt, nicht davonläuft. Fragen stellt. Prüft. Markus Günther hat einen sehr persönlichen, nachdenklich stimmenden Roman geschrieben. Eine mutige „Coming of Age“-Erzählung, auf hohem stilistischem Niveau. Nicht nur zu Quarantäne-Zeit empfohlen, aber auch.

Markus Günther: Pieta.
fontis Verlag 2020, 256 Seiten,
ISBN 978-3-03848-
189-8,
EUR 20,–

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