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„... und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen“

Ein nüchterner Blick in die Historie lässt erkennen: Die Geburtsgeschichte Jesu hat wenig Romantisches an sich. Von Wolfgang Sotill
Geburtsgeschichte Jesu hat wenig Romantisches an sich
Foto: Archiv

Die Evangelien berichten uns wenig über Josef den Nährvater. Dafür zeichnet die Tradition das Bild eines älteren Herrn mit Glatze, der demütig erträgt, was ihm das Leben aufbürdet. Und das war in den Tagen, als er nach Bethlehem zog, um sich in Steuerlisten eintragen zu lassen, nicht gerade wenig: Zunächst einmal galt es für ihn, den richtigen Weg von Nazareth nach Bethlehem zu finden, denn der kürzeste, jener „übers Gebirge“, war nicht ganz ungefährlich. Immer wieder überfielen Samaritaner Juden, die durch ihr Gebiet zogen. Tief saß die gegenseitige Ablehnung der Glaubensbrüder, die sich an der Frage entzündete: Wessen Bibel ist die wahre? Heute noch bezeichnen sich die Samaritaner als „Shomronim“, als die Hüter des wahren Glaubens, denen die fünf Bücher Mose als Heilige Schrift genügen. Die Geschichtsbücher, die Psalmen, die Weisheitsliteratur und die Propheten, wie sie die Juden als von Gott geoffenbart im Tanach haben, lehnen die Samaritaner ab.

Der ungefährlichere Weg war aber länger und führte über den Jordangraben bis nach Jericho, von dort über 1 000 Höhenmeter durch die Wüste steil bergauf nach Jerusalem und noch zwei Gehstunden weiter nach Bethlehem. Welchen Weg das Paar genommen hat, wissen wir nicht. Sicher ist nur, dass zu den üblichen Strapazen auch noch kam, dass Maria hochschwanger war.

Josef muss Grund und Boden in Bethlehem besessen haben, und den galt es nun steuerlich zu veranlagen. Nur die Kopfsteuer allein, die er für sich und seine Verlobte künftig würde entrichten müssen, hätte er auch in Nazareth regeln können. Für den Besitz musste er aber mit seiner Familie „in seiner Heimatstadt“ vor einem Steuerbeamten erscheinen, um vor Zeugen, seinen Besitz und sein Alter anzugeben. Daraufhin wurde die Höhe der Zahlung festgelegt.

Nun war Josef ein Baumeister, ein „tekton“, wie es im griechischen Urtext des Neuen Testaments heißt, und kein Zimmermann, wie Martin Luther es höchst erfolgreich, aber dennoch falsch übersetzt. Mit diesem Beruf dürfte Josef sein Auskommen für sich und seine Familie gehabt haben – aber zusätzliche Steuern? Diese haben Josef vermutlich belastet. Denn wohlhabend waren in Galiläa, so haben Neutestamentler erforscht, keine zehn Prozent der Bevölkerung. Der Rest lebte an oder unter der Armutsgrenze.

Zu den zu erwartenden finanziellen Belastungen kam noch Josefs seelische Not. War doch Maria schwanger geworden, ohne dass er mit ihr sexuellen Kontakt gehabt hatte – nachzulesen bei Mt 1,18 ff. Da er „gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss er, sich in aller Stille von ihr zu trennen“. Unser heutiges Empfinden, das wir mit Zuneigung und Liebe verbinden, gebietet uns, in so einem Fall bei einer Person zu bleiben und nicht, uns von ihr zu trennen. Vor 2 000 Jahren war dies im jüdischen Kulturkreis allerdings entscheidend anders. Laut Numeri 5,11–31 war es jedem frommen Mann geboten, eine tatsächliche oder auch nur vermutete sexuelle Verfehlung seiner Frau im Tempel anzuzeigen. Um ihre Treue oder Untreue herauszufinden tauchte ein Priester dann auf Pergament geschriebene Flüche in ein Wasser, das die Beschuldigte zu trinken hatte. Wurde sie dann einer sexuellen Verfehlung überführt (dies war der Fall, wenn ihr Bauch anschwoll und die Hüften einfielen), dann wurde sie zur Steinigung verurteilt.

Wenn sich nun Josef von Maria hätte trennen wollen, dann war dies nach seiner Logik nur „gerecht“: wo kein Kläger, dort keine Steinigung. Auf Geheiß Gottes aber, der ihm im Traum erschienen war, „Josef fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen“, verstand er, dass Gottes Wege unerforschlich sind.

Nach drei, vier Tagen endlich in Bethlehem angekommen „kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“ Die biblischen Schriften sind voll der Anspielungen, und frei von unnötigen Bemerkungen. So ist auch die Erwähnung, dass Maria das Neugeborene in Windeln gewickelt hat, ein theologischer Topos. Dazu muss man wissen, dass es auch im Judentum vor 2 000 Jahren neben der Hochreligion, die die Priester verkündeten, einen Volksglauben, vielleicht gar Aberglauben gegeben hat. Ein solcher ging im Orient davon aus – und er tut es bis heute bei Juden, Christen und Muslimen –, dass Kleinkinder von Dämonen angegriffen werden. Wenn die Juden im Johannesevangelium (8,48) fragen, ob Jesus nicht vom bösen Geist besessen sei, kann die Bibel antworten: Nein ist er nicht, denn Maria hat alles getan, um den Dämonen keine Angriffsfläche zu bieten. Sie hat ihn in Windeln gewickelt. Sehr schön ist dies in der Ikonografie der Ostkirche dargestellt, wo Jesus bis zum Hals eingewickelt ist. Und der Kopf? Um diesen ebenfalls vor „Angriffen“ zu schützen, strich man Kindern die Lippen rot an. Später, wenn sie laufen konnten, auch noch die Fingernägel. Schminken, das heute aus rein ästhetischen Gründen geübt wird, hatte früher einmal eine schützende und eine die Dämonen abwehrende Funktion.

Jesus war, so der Evangelist, der Erstgeborene. Diesem fiel, wie dies auch in den ländlichen Gebieten des Alpenraums lange der Fall war, das gesamte Vermögen der Eltern zu. Dafür hat er aber auch für den sozialen Schutz der Eltern in deren Alter zu sorgen. Als Jesus sterbend am Kreuz hing, und die Obsorge für seine Mutter nicht mehr erfüllen konnte, übertrug er diese seinem Lieblingsjünger Johannes mit den Worten: „Siehe da, Deine Mutter. Und fortan nahm sie der Jünger zu sich.“

Stellt sich nun die Frage, ob die Höhle, die heute in Bethlehem als jene der Geburt Jesu gezeigt wird, tatsächlich der historische Ort gewesen sein kann. Wenn im Evangelium von einem Stall und nicht von einer Höhle die Rede ist, dann ist das nur scheinbar ein Widerspruch. Häufig wurden Höhlen als Stallungen benutzt. Der Wohnraum konnte direkt davor angebaut sein. An diesen Wohnraum, in dem bei Bedarf auch Gäste beherbergt wurden, hat wohl Lukas gedacht, wenn er schreibt, dass „in der Herberge kein Platz für sie war“. Wobei der deutsche Terminus „Herberge“ falsche Assoziationen ermöglicht, denkt man doch eher an ein Hotel oder eine Gaststätte. Woraus sich der schöne alpenländische Brauch des Herbergsuchens entwickelt hat.

Bereits um das Jahr 150 berichtet der Kirchenvater Justin von Nablus, dass Jesus in einer Höhle geboren worden sei. Da das ganze Gebiet von Betlehem von Höhlen durchzogen ist, ist dies durchaus vorstellbar. Nun soll diese Höhle, in der wir heute der Geburt Christi gedenken, aber bald eine gewaltsame Profanierung erleben. Und zwar durch den römischen Adonis-Kult. Die offene Frage ist nur: Wann kam er hierher? War diese Kult-Implantierung eine gegen die Judenchristen gerichtete Maßnahme, dann kann sie unter Kaiser Hadrian nach der Niederschlagung des Zweiten Jüdischen Krieges (132 bis 135) erfolgt sein; wurde das Andenken an den Geliebten der Aphrodite und der Artemis hingegen im Rahmen einer staatlich gelenkten Christenverfolgung hierher verlegt, so dürfte dies um 250 geschehen sein. Wie bei der Grabeskirche in Jerusalem, wo Hadrian einen riesigen Tempel über Golgotha und dem „nur einen Steinwurf entfernten Grab“ hat erbauen lassen, um die darunter liegenden Traditionen der Judenchristen verschwinden zu lassen, so hat er dieselbe Methode offenbar auch in Bethlehem angewandt.

Schon in Darstellungen der Geburt Christi im 4. Jahrhundert finden wir einen Ochsen und einen Esel neben der Krippe. Nun kann man dies wie der österreichische Dichter Karl Heinrich Waggerl interpretieren: „Der Ochs war zu behäbig, als dass man ihn von der Stelle hätte bewegen können und den Esel hat man ohnedies zur späteren Flucht nach Ägypten gebraucht.“ Tatsächlich sind die beiden Tiere mehr als nur Stall-Idylle: Sie sind bei Jesaja 1,3 eine Anspielung darauf, dass das Volk Israel seinen Gott vergessen hat: „Der Ochs kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis.“ Es gibt noch eine zweite, theologisch ebenso schlüssige Interpretation, nach der der nicht-koschere Esel die „ecclesia ex gentibus“, die Kirche aus den Völkern, der koschere Ochs hingegen die „ecclesia ex circumcisione“, die Kirche aus der Beschneidung, symbolisiert. Tatsächlich hat die Kirche der ersten Jahrhunderte Traditionen beider Seiten in sich getragen.

Eine der großen, bislang ungelösten Fragen um die Geburt Jesu ist jene nach dem Zeitpunkt. Folgt man dem Matthäus-Evangelium, dann hat Herodes der Große, der im Jahr 4 vor Christus gestorben ist, den bethlehemitischen Kindermord angeordnet. Er hat den Auftrag gegeben, alle Knaben bis zu einem Alter von zwei Jahren töten zu lassen. Das bedeutet, dass Christus im Jahr 7 oder 6 vor Christus geboren sein muss. Immer mehr Neutestamentler vertreten mittlerweile aber die Theorie, dass es den Kindermord nicht historisch, sondern nur literarisch gegeben hat. Dabei führen sie zwei Argumente an: Der jüdisch-römische Schriftsteller Josephus Flavius beschreibt in seinen zwei Hauptwerken, dem „Jüdischen Krieg“ und den „Altertümern“, jede Palastintrige am Hof des Herodes detailreich und vermittelt uns so ein Bild der Zustände in und um Jerusalem zu der fragwürdigen Zeit. Und solch ein Chronist soll nicht über einen Massenmord berichtet haben? Das scheint höchst unglaubwürdig.

Stichhaltiger ist das theologische Argument: Der Bericht vom Kindesmord findet sich nur bei Matthäus, und der schreibt für eine judenchristliche Gemeinde. Diese liest den Kindermord so: Die bisher wichtigste Person im Judentum war Moses. Er hat die Israeliten aus der Knechtschaft Ägyptens befreit und sie durch die Wüste geführt. Moses ist also in den Augen der Juden ein umjubelter Freiheitskämpfer, ein gefeierter Held. Und dieser Moses ist als Kleinkind ebenfalls nur knapp dem Tod entgangen, als er in einem Bastkörbchen am Ufer des Nils ausgesetzt wurde. Moses aber hat Israel „nur“ von der Knechtschaft Ägyptens befreit, dieser ebenfalls im Kleinkindalter mit dem Tod bedrohte Jesus aber befreit alle, die an ihn glauben von der Sünde. Matthäus positioniert Jesus, den seine Leserschaft zunächst nicht kennt, also über Moses, dem Nationalhelden Israels.

Theologen sprechen von typologischer Steigerung. Solche kennen und akzeptieren wir leicht bei Adam, durch den die Sünde in die Welt gekommen ist, und Jesus, der sie getilgt hat. Oder zwischen der Sünderin Eva und Maria, der unbefleckten Mutter Gottes. Bei Moses und Jesus ist sie vielen fremd und ohne den jüdischen Kontext auch nur schwer nachvollziehbar. Aber wie hat der heilige Hieronymus, der um das Jahr 400 in Bethlehem die biblischen Schriften ins Lateinische übersetzt hat, gesagt: „Das Land der Bibel ist das fünfte Evangelium, das man versteht, wenn man die ersten vier gelesen hat.“ Dabei empfiehlt sich nicht nur die Lektüre mit einem abendländischen Blick, sondern auch mit einem, der jenem Kulturkreis entspricht, in dem das Neue Testament entstanden ist.

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