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Willkommen in der Anarchie

Streichung des § 218 StGB? Warum der Angriff auf das „Recht auf Leben“ zugleich ein Angriff auf Staat und Gesellschaft ist.
Vorstellung der Legalisierungsinitiative in Berlin
Foto: IMAGO/Christian Ditsch (www.imago-images.de) | Die Streichung des § 218 StGB würde letztlich eine Gesellschaft bloß noch Geduldeter schaffen. Im Bild die Vorstellung einer Streichungsinitiative Mitte September in Berlin.

Seit gestern verlangen 26 Organisation: der Staat soll vorgeburtliche Kindstötungen „auf Verlangen schwangerer Personen“ bis zum Ende der 22. Schwangerschaftswoche „rechtmäßig“ stellen. Die Paragrafen 218 bis 219b müssen aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Die Vorrausetzungen zur Durchführung der dann „rechtmäßigen“ vorgeburtlichen Kindstötungen sollen im „Schwangerschaftskonfliktgesetz“ geregelt werden.

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Aufgegeben werden müsste folglich nicht nur das nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrheit“) verbürgte „Recht auf Leben“. Entfallen soll auch die Pflicht der Schwangeren, sich über staatliche Hilfen für Mutter und Kind und über die Rechte des Ungeborenen informieren zu lassen. Und als wäre das noch nicht genug, sollen die gesetzlichen Krankenkassen, sprich die Solidargemeinschaft der Krankenversicherung, die Kosten tragen, die Ärzte für die Beseitigung und Entfernung unschuldiger und wehrloser Menschen aus dem Mutterleib in Rechnung stellen. Bei weit mehr als 100.000 vorgeburtlichen Kindstötungen, die dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden jedes Jahr gemeldet werden und Kosten, die zwischen 350 und 600 Euro liegen, bedeutet das eine Belastung der Versicherten von – Minimum – mehr als 35 Millionen Euro pro Jahr.

Unmenschlichkeit ist nicht umsonst zu haben

Unmenschlichkeit mag wenig Anstrengung erfordern. Umsonst zu haben, ist sie nicht. Weit umfangreicher als der finanzielle Schaden, wäre jedoch der moralische. Im Grunde genommen, lässt er sich – weil er auf einen Total-Bankrott von Staat und Gesellschaft hinausließe – nicht einmal beziffern. Und das hat Gründe.

Denn wenn die Vernichtung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen im Mutterleib „rechtmäßig“ würde und Abtreibung damit zu einer medizinischen Leistung wie andere würde, wird jede Empfängnis eines Kindes dadurch zu einer „Krankheit“ und Abtreibung zu einer „Heilbehandlung“, die von einem vermeidbaren „Schaden“ befreite. Auch wenn es künftig weiter mehr Paare geben würde, die mit dieser „Krankheit“ leben wollten, so würde sich doch die gesamtgesellschaftliche Sicht auf Kinder fundamental verändern. Ein Kind wäre nicht länger ein „jemand“, der Würde besitzt und dessen Rechte respektiert werden müssen, sondern etwas, das allein von der „Gnade“ seiner Erzeuger abhinge. Da aber restlos alle Menschen auch einmal Kinder waren – wären auch sie nicht „jemand“, der Achtung seiner Person und seiner Rechte verlangen kann, sondern bloß noch geduldet.

Es geht nicht um juristische Feinheiten, sondern ums Ganze

Wie man als bloß Geduldeter gesund und erfolgreich durch dieses Leben gehen kann, wie man seine vielfältigen Herausforderungen meistern können soll, ja wie man als bloß Geduldeter „zufrieden“ oder gar „glücklich“ werden können soll, weiß niemand. Denn der bloß Geduldete lebt in der ständigen Furcht, dass seine Duldung zeitlich limitiert und folglich befristet ist. Ein Volk aus lediglich Geduldeten vermag weder Solidarität noch Innovationskraft zu entwickeln. Jedenfalls nicht in dem Umfang, der für ein gedeihliches Zusammenleben erforderlich wäre. Es fristet ein Leben im Wartestand. Der Ruf nach dem „ärztlich assistierten Suizid“ und der „Tötung auf Verlangen“ erschallt nicht um sonst so laut. Von Seiten derer, die sich mit den bislang Geduldeten nicht länger belasten wollen, genauso wie von Seiten derer, die sich nicht länger als bloß Geduldete erfahren wollen.

Bei der von „Pro Familia“ und 25 weiteren Organisationen verlangten Streichung der Paragrafen 218ff aus dem Strafgesetzbuch und der Änderung der Formel „rechtwidrig, aber straffrei“ zu „rechtmäßig und bezahlt“ geht es also nicht um Paragrafenreiterei oder juristische Feinheiten. Es geht ums Ganze. Um die Art, wie wir einander ansehen und wie wir mir miteinander umgehen. Als Aufrechte, die Würde besitzen und einander Achtung und Respekt schulden und verlangen dürfen, oder als Gebeugte und bloß Geduldete, die einander mit Misstrauen und in der Furcht begegnen müssen, dass der eine die Duldung des anderen aufkündigt.

Recht würde zu einer Fiktion

Das hat Konsequenzen, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für ihr Verständnis von Staat und Recht. Denn wenn es „rechtmäßig“ würde, die Tötung eines wehrlosen und unschuldigen Menschen in Auftrag geben und die Kosten dafür der Gemeinschaft der Versicherten aufbürden zu können, gibt es nichts mehr, das prinzipiell unerlaubt sein könnte. Anders formuliert: Wenn das „Recht auf Leben“, das faktisch die Grundlage aller anderen Grundrechte ist, kein Grundrecht mehr ist, gibt es überhaupt keine Grundrechte mehr. Wenn es aber keine Grundrechte mehr gibt, gibt es auch kein vorstaatliches Recht mehr, an dem der Staat seine Rechtsordnung ausrichten und orientieren könnte. Recht würde zufällig und damit allein der Laune wechselnder Mehrheiten unterworfen. Mehr noch: Recht würde zu einer bloßen Fiktion. Eine, die auch keinen Anspruch auf Rechtstreue oder gar Rechtsgehorsam beanspruchen könnte. Willkommen in der Anarchie.

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Stefan Rehder Kindstötung Lebensschutz Tötung auf Verlangen

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