Jerry, sie heißt eigentlich Gerhild, ist Präsidentin des Deutsch-Amerikanischen Clubs von Santa Monica an der US-Westküste. Das demokratisch geprägte Kalifornien gehört nicht zu den „Swing-States“, wo wegen unklarer Mehrheitsverhältnisse völlig offen ist, welche Partei die Wahlmänner zur Präsidentenwahl entsenden darf. So schaut man auf die bevorstehenden „Elections“ gelassener als bei den wechselhaften Nachbarn in Nevada und Arizona.
Donnerstag ist „Klubabend“. Jerry hat für den Termin nach der Wahl eingeladen: „Es gibt Bratwurst mit Rotkohl!“ Die Deutschen sind in den USA die bei weitem stärkste Einwanderergruppe, über 40 Millionen US-Amerikaner geben eine deutsche Abstammung an, wie der letzte Zensus ergab.
Die Deutschen als Treiber der Industrialisierung
Die Besiedlung des Wilden Westens ohne die Deutschen: undenkbar. Über die Jahrhunderte zogen sie aus den unterschiedlichsten Beweggründen in das gelobte Land, religiöse und wirtschaftliche Motive überwogen, nach der gescheiterten 48er-Revolution gab es auch eine politische Fluchtwelle. Bismarcks Katholikenverfolgung bildete danach einen neuen Hintergrund für die Auswanderung, darauf geht bis heute das Raphaels-Werk zurück, eine ursprünglich rein katholische Einrichtung zur Betreuung von auswanderungswilligen Gläubigen, die dem preußisch geprägten Kaiserreich nicht mehr trauten.
Sind die Deutschen die stärkste Nationalität, was die Abstammung betrifft, so sind die Katholiken die zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft der USA, 25 Prozent zwischen Ost-und Westküste sind Katholiken, in Kalifornien sind es sogar 35 Prozent. Nicht wegen der Deutschen, sondern wegen der „Hispanics“, der aus Lateinamerika Zugewanderten.
Die stürmische Industrialisierung der USA sah viele Deutsche als Treiber: Rockefeller und Pfizer, Boeing, Steinway, Strauss und Heinz. Auch nach dem Ersten Weltkrieg galten für viele Deutsche die Vereinigten Staaten als das Land der räumlich und ökonomisch unbegrenzten Möglichkeiten. Die „Deep Depression“ mit wirtschaftlichem Chaos und breiter Armut Ende der 1920er war noch nicht in Sicht, die Chancen waren enorm.
Städtepartnerschaft mit dem glanzvollen Hollywood-Refugium
Der katholische Kolpingsohn Anton Voß wanderte in dieser Zeit nach Kalifornien aus. Der Westfale aus Hamm, ein gelernter Bäcker, kam zunächst im „Kolping-House“ von Los Angeles unter. Das Kolpinghaus gibt es heute noch, für 175 Dollar die Woche können Handwerksburschen dort Quartier nehmen, gemeinsames Bad und Küche zur Mitbenutzung.
Voß brauchte in Santa Monica keine Meisterprüfung, um an Backöfen reich zu werden. Seine Herkunft und Heimat mit Stahlöfen vergaß Anton Voß nie, nach dem Zweiten Weltkrieg organisierte er Care-Pakete. In den 60ern gründete der Selfmade-Großbäcker zusammen mit dem damaligen Hammer Oberbürgermeister Günter Rinsche, ein früher US-Jura-Stipendiat, die weitgehend unbekannte Städtepartnerschaft der Industriestadt Hamm mit dem glanzvollen Hollywood-Refugium Santa Monica. Gefragt nach der Partnerstadt mit Hamm, nach Anton Voß, antwortet Jerry: „Never heard…“, nie gehört.
Von amerikanischer Seite erinnert sich kaum jemand an die buckeligen Partner aus der heute glanzlosen Industriestadt, wo statt Beach-Volleyball Straßenfußball gespielt wird und wo man die Hollywood-Stars wie Matt Damon, die in Santa Monica wohnen, bestenfalls von der Kinoleinwand kennt. 33 Prozent beträgt die Migrationsquote in Hamm, auch dort ist das Interesse an der reichen Schwesterstadt gering, von offizieller Seite wird kein Partnerprogramm gepflegt. Man hat andere Sorgen und sicher auch ein paar unverarbeitete Minderwertigkeitskomplexe.
Amerikanischer Traum vs. Welterklärhoheit
Dabei könnte der Blick auf die Hammer Vergangenheit mit dem Bäcker Anton Voß, der in Kalifornien reich wurde, helfen, die Gegenwart rund um die Präsidentenwahl zu verstehen. Die deutschstämmigen Amerikaner wählen traditionell eher republikanisch, sie schätzen konservative Grundeinstellungen und Werte, sind familienorientiert und möchten nicht, dass sich ihr Land überall auf der Welt mehr als unbedingt nötig einmischt.
Was Wahlforscher ermittelt haben, findet seinen Niederschlag auch im aktuellen Personaltableau. Trump hat bekanntermaßen einen deutschen Hintergrund, Kamala Harris‘ Vize Tim Walz aber auch. Hillary Clinton hatte 2016 die Deutschen in den Swing-States schlicht vergessen, dabei bezeichnen sich etwa im Swing-Staat Wisconsin 41 Prozent der Bevölkerung als deutschstämmig. Walz bedient, was Deutsche hören wollen, er repräsentiert den freundlich-schlichten Mann aus dem Volk, der lange gedient hat und für den Pflicht und Anstand auch in der Politik selbstverständliche „skills“ sind.
Doch ob das für die Demokraten reicht? Trump bedient mit seiner wüsten Propaganda den amerikanischen Traum. Weil der keine reale Perspektive, sondern nur ein Traum ist, lässt er sich kaum rational entzaubern. Man möchte nicht gern geweckt werden, schon gar nicht von den „woken“, den im eigenen Selbstverständnis erwachten Linken wie Kamala Harris und ihrer Entourage, die die Welterklärhoheit beanspruchen. Und für viele Katholiken ist Trump das kleinere Übel, wenn es um das große Wahlkampfthema „Abtreibung“ geht. Kamala Harris‘ Ehemann, der deutschstämmige, jüdische Rechtsanwalt Douglas Emhoff, posiert in geschmackloser Triumphhaltung vor Abtreibungskliniken, während Trump und sein designierter, katholisch konvertierter Vize J.D. Vance die Katholiken umwerben und Marienbilder posten.
Ziemlich einig sind sich die amerikanischen Deutschen und die Katholiken außenpolitisch darin, dass man sich lieber um das eigene Land als um die Welt drumherum kümmert. Gewinnt Trump und mit ihm die „Germans“ und die „Catholics“ unter seinen Wählern, ist die Botschaft für Deutschland klar: Mehr politische Verantwortung, mehr militärische Eigenleistung- und auf jeden Fall weniger Amerika bei uns. Deutschland, das ist für viele Deutsch-Amerikaner mehr eine Sache für „Klubabende“, nicht nur bei Jerry in Santa Monica.
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