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Udo Di Fabio: "Was immer funktioniert, das pflegen wir nicht besonders"

Udo Di Fabio über die vermeintliche Erosion des Rechtsstaates, Lehren der Pandemie, Spaltungstendenzen der Gesellschaft, die Haltung des Citoyen und die Bedeutung der Familie für den Staat.
Ehemaliger Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio
Foto: Grandios Magazin/Gerhard Spoettel | Udo Di Fabio, geboren 1954 in Walsum, zählt zu den renommiertesten Verfassungsrechtlern und Gesellschaftsanalytikern in Deutschland.

Herr Professor Di Fabio, Sie zählen zu den bekanntesten Intellektuellen und profiliertesten Juristen dieses Landes. Ihre Bücher, stellvertretend genannt seien "Die Kultur der Freiheit", "Schwankender Westen" oder zuletzt "Coronabilanz", haben häufig Debatten ausgelöst. Zwölf Jahre lang waren Sie als Mitglied des Zweiten Senats Richter am Bundesverfassungsgericht. Am 22. September 2011, fast auf den Tag genau vier Monate vor Ende Ihrer Amtszeit, fand im Deutschen Bundestag ein denkwürdiges Ereignis statt.

Sie meinen vermutlich die Rede Papst Benedikts XVI.

In ihr legte der damalige Papst den gewählten Vertretern des Volkes, hochrangigen Repräsentanten des Staates und geladenen Gästen einige Gedanken über die Grundlagen des Rechtsstaates vor und zitierte unter anderem den heiligen Augustinus mit den Worten: "Nimm das Recht weg! Was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?" Wie ist es derzeit, grosso modo, um das Recht in Deutschland bestellt?

Wir finden auch in unserer heutigen Welt empirisch bestätigt, was Augustinus damals, vermutlich ebenfalls aus der Erfahrung seiner Zeit formulierte. Der Staat ist eine Erfindung, die letztlich Würde und Freiheit des Menschen sichern soll. Der Staat soll Menschen also weder bevormunden noch gängeln und schon gar nicht unterdrücken. Stattdessen garantiert er eine Friedensordnung und verfolgt politische Ziele als Gemeinschaftsziele, vor allem mit den Mitteln des Rechts. Diese Zwecksetzung des Staates ist in der Ideengeschichte über einen sehr langen Zeitraum entwickelt und immer weiter ausgeprägt worden. Und daran wird sich auch nichts ändern. Denn der Mensch kann als Einzelwesen nur dann ein Maximum an Freiheit sowie den Schutz seiner Existenz und Würde genießen, wenn es einen funktionierenden Rechtsstaat gibt. Und wenn Sie fragen, ob es den in Deutschland gibt, dann würde ich sagen: Ja, einen solchen gibt es und wir alle profitieren davon.

Nun hat Ihr Kollege, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und damalige Vorsitzende des Ersten Senats, Professor Hans Jürgen Papier, unlängst in einem Buch vor einer schleichenden Erosion des Rechtsstaates gewarnt. Übertreibt er?

Alle Institutionen, vor allem die erfolgreichen, gehen so ins Selbstverständliche über, dass aus ihrem Erfolg die Gefahr einer Erosion erwächst. Denn was immer funktioniert, das pflegen wir nicht besonders. Insofern sind solche Warnungen regelmäßig berechtigt. Wenn wir aber systematisch darüber nachdenken wollen, müssen wir fragen, was denn einen Rechtsstaat ausmacht.

Und Ihre Antwort lautet?

Von einem Rechtsstaat sprechen wir dort, wo der Staat mit klaren und für die Bürger verständlichen Gesetzen die Ziele des Gemeinwohls und die Grenzen der Freiheit markiert. Und dort, wo unabhängige Gerichte am Maßstab der Gesetze und der Verfassung die Rechte der Bürger schützen. Wenn man dies zum Maßstab nimmt, leben wir allerdings auch in einer Zeit, die durch ein Übermaß an gesetzlichen Regelungen nicht immer den Geboten der Einfachheit und Bestimmtheit genügt. Nun ist die Klage über die Flut an Gesetzen so alt, wie die Gesetzgebung selbst, und insofern ein Dauerbrenner. Aber wenn man sich unter Rechtsanwendern umhört, dann verstehen heute manchmal selbst ausgebildete Juristen nicht mehr ohne Weiteres die Rechtslage. Heißt: der Staat gibt nicht unmissverständlich vor, was die genaue Pflicht ist. Und dahinter verbirgt sich dann schon ein Problem.

Welches?

Wenn die Menschen nicht mehr genau wissen, was das Gesetz eigentlich von ihnen verlangt, weil es zu kompliziert, zu undurchsichtig oder über zu viele Ebenen verteilt ist, dann entsteht ein Gefühl der Unsicherheit.

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Haben Sie ein Beispiel zur Hand?

Eines der simpelsten Beispiele ist das Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr. Jeder weiß, dass wir rechts fahren und links überholen, aber können Sie mir auch die Ausnahmen spontan erklären? Oder nehmen wir das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das nicht genau sagt, was in welchem Land von einem Unternehmen gefordert ist. Ein anderes Beispiel ist der Straftatbestand der Untreue. Ab wann erfüllt eine Sparkassendirektorin diesen Straftatbestand, wenn sie einen weiteren Kredit an einen Handwerksbetrieb gibt, der in Schwierigkeiten steckt? Oder denken Sie an die Frage, welche Heizung in ein Gebäude eingebaut werden darf oder vernünftigerweise eingebaut werden sollte. Ein ehrgeiziger Gesetzgeber, der sehr vieles regulieren will und große Pläne zur Umgestaltung der Gesellschaft verfolgt, kann ein Gefühl der Verunsicherung erzeugen. Und darin würde ich dann tatsächlich ein Stück weit eine Erosion des Rechtsstaats erblicken, wenn das Gesetz unklar wird oder für Selbstverantwortung kein Raum mehr bleibt. Von einer handgreiflichen Gefährdung des Rechtsstaats lässt sich allerdings erst dann sprechen, wenn es Angriffe auf unabhängige Gerichte gibt. In Deutschland ist das nicht der Fall. Aber in anderen EU-Mitgliedstaaten gibt es solche Attacken durchaus.

Sie denken an wen?

Teile der polnischen Justizreform stehen gelinde gesagt in der Diskussion. In Bulgarien und Rumänien gefährdet Korruption die Unabhängigkeit der Justiz. All das betrifft auch uns insoweit, als wir uns ja in einem einheitlichen Rechtsraum befinden. Und in diesem können andere Staaten beispielsweise Haftbefehle für deutsche Staatsbürger ausstellen.

James Madison, einer der Gründerväter der USA und ihr vierter Präsident, schrieb in den "Federalist Papers" sinngemäß, wären die Bürger Engel, bräuchten sie keine Regierenden. Wären die Regierenden Engel, bräuchten sie keine Kontrolle. Da beides nicht der Fall sei, gelte es, Vorkehrungen zu treffen. Zu diesen zählt die Teilung staatlicher Gewalt in Legislative, Exekutive und Judikative. Die würde ich gerne mit Ihnen der Reihe nach durchgehen. Einverstanden?

Selbstverständlich. Legen Sie los.

Beginnen wir mit der Legislative. Sie haben die Gesetzesflut schon angesprochen. Nun ist die Menge der Gesetze eines, ihre Reichweite etwas anderes. Ich denke hier etwa an die einrichtungsbezogene Impfpflicht oder die wiederholten Anläufe für die Einführung der Widerspruchsregelung bei der Organspende. Aber auch an so Profanes wie den Einbau von Wärmepumpen oder das ab 2035 geltende Verbot, Neuwagen zuzulassen, die von Verbrennern angetrieben werden. All das stößt vielerorts auf Unmut. Handelt es sich dabei noch um normales Regierungshandeln, das in Medien und sozialen Netzwerken skandalisiert wird? Oder sind das nicht doch Anzeichen dafür, dass sich im Gefüge von Regierenden und Regierten etwas verschoben hat?

Der demokratisch gewählte Gesetzgeber hat selbstverständlich das Recht, den Bürgern Pflichten aufzuerlegen. Das hat er nicht nur immer schon getan, das ist ja auch Teil der demokratischen Selbstregierung des Volkes. Auch wäre keines der von Ihnen genannten Beispiele per se geeignet, einen unverhältnismäßigen Eingriff in Grundrechte zu belegen. Wenn Sie mich aber als gesellschaftsanalytischen Beobachter fragen, dann würde ich sagen: Die Tendenz zur Lenkung der Gesellschaft steigt unentwegt, gerade auch unter dem Begriff der Transformation. Schließlich wollen wir auf dem Weg zur Klimaneutralität den gesamten Stoffwechsel der Gesellschaft umgestalten. Da muss man vor allem bei der Wahl der Mittel und bei der Lösung von Zielkonflikten aufpassen, dass man am Ende des Tages nicht nur Klimaneutralität erreicht, sondern womöglich auch die Grundlagen der Freiheit verschoben hat.

"Die Tendenz zur Lenkung
der Gesellschaft steigt unentwegt"

Können Sie das erläutern? Gegebenenfalls auch als Soziologe, der Sie ja auch sind.

Mit der Sozialen Marktwirtschaft war die Vorstellung verbunden, über ein Ordnungsmodell zu verfügen, das Monopole verhindert und es ermöglicht, Chancen derart gerecht zu verteilen, dass alle an ihm mitwirken können und dabei Freiheit und Wohlstand erlangen. Das ist ein liberales Denkmodell. Eines, das auch unserem Grundgesetz erkennbar zugrunde liegt. Eine ganze Gesellschaft auf bestimmte Ziele, die kalendarisch festgesetzt werden, hin umzudisponieren, Preise staatlich zu bestimmen und Investitionsentscheidungen der Wirtschaft vorzuschreiben oder zu verbieten, das entspricht in der Summe nicht mehr dem Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft.

Sondern?

Das führt in das Modell einer politisch gelenkten Marktwirtschaft. Auch wenn die von Ihnen angeführten Einzelfälle für sich genommen bei mir noch keine verfassungsrechtlichen Warnlampen zum Leuchten bringen, markiert doch ihre Summierung den Übergang zu einer politisch gelenkten, womöglich sogar einer bevormundeten Gesellschaft dar. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, müssen einzelne Maßnahmen strenger am Maßstab der Verhältnismäßigkeit geprüft werden.

Schauen wir auf die Exekutive. Während der SARS-CoV-2-Pandemie hatten viele Menschen das Gefühl, was funktioniert, ist die Überwachung der Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Wohingegen die kommunalen Gesundheitsämter überfordert waren und die zugesagten Wirtschaftshilfen für viele zu spät kamen. Sie waren Mitglied des 12-köpfigen Corona-Expertenrates der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Welche Einblicke in das Funktionieren oder auch Versagen der Verwaltung haben Sie erhalten?

Vieles hat allen Unkenrufen zum Trotz recht gut funktioniert und das Engagement der vielen Menschen etwa im Gesundheitswesen war beeindruckend. Doch wir konnten in manchen Bereichen auch beobachten, dass wir in unserem Land mit Blick auf den Erhalt der Infrastruktur von Gesundheitsämtern oder Schulen, im Gesundheits- und Pflegebereich jahrzehntelang etwas zu sorglos gelebt haben. Sie haben eingangs nach der Erosion des Rechtsstaats gefragt, und ich habe festgestellt, dass der in Deutschland eigentlich ganz gut funktioniert. Aber ob das Rettungswesen, das Bildungssystem und die Verwaltungen noch so funktionieren, wie wir das jahrzehntelang gewohnt waren, das wird tatsächlich von vielen mehr und mehr infrage gestellt. Meine Beobachtung ist, dass im politischen Raum, ausgehend von der Erfahrung einer erfolgreichen und wohlhabenden Gesellschaft, die wir nach wie vor sind, Zielvorgaben und Pläne formuliert werden, ohne die Frage zu stellen, ob eine in die Jahre gekommene Infrastruktur Schritt halten kann, die vor einem gewaltigen personellen Problem des demografischen Wandels steht. Wer die Grundlagen nicht entschlossen pflegt, der verursacht eine gefährliche Kluft zwischen ebenso großen wie wichtigen Zielen und der Möglichkeit, diese auch - ohne Schäden an anderer Stelle - zu erreichen.

Wo zum Beispiel?

Die mit Mängeln behaftete digitale Ausrüstung unseres Gesundheitssystems dürfte für alle besonders augenfällig geworden sein. Offenbar wurde auch, dass wir in vielen Bereichen bei den Personalressourcen inzwischen eine viel zu kurze Decke haben. Das gilt für viele, nahezu alle Bereiche, einschließlich des Bildungswesens. In Stresssituationen wie einer Pandemie kommt es zum Härtetest. Da merkt man plötzlich, wie dünn hier und dort die Personaldecke geworden ist. Es ist wohlfeil zu sagen, wir brauchen mehr Lehrkräfte, wenn sich die nicht finden lassen. Solche Engpässe mehren sich. Das hat die Corona-Pandemie gezeigt. Sie hat allerdings auch gezeigt, dass wir im internationalen Vergleich immer noch über ein leistungsfähiges System verfügen. Insofern sollten wir jetzt auch nicht der deutschen Neigung folgen, Katastrophen an die Wand zu malen, nur weil Defizite zutage getreten sind. 

Aber erodiert, wenn Bürger solche Defizite feststellen, wenn auch nicht der Rechtsstaat selbst, so doch ihr Vertrauen in ebendiesen?

Vertrauen entsteht, wenn etwas in der Empirie sich bewährt hat oder wenn ein politisch verfolgtes Konzept verstanden und gebilligt wird. Im System der Gewaltenteilung heißt das, beim Gesetzgeber muss man das kluge Konzept verstehen können, bei der Verwaltung verlangt man geschmeidiges und bürgerfreundliches Funktionieren, während das Vertrauen in unabhängige Gerichte entsteht, wenn sie von politischen Einflüssen unabhängig sind, sich nicht politisieren lassen und leistungsfähig bleiben. Gerade auch im Fall der Rechtsprechung bewegen wir uns auf einem recht hohen Niveau des Vertrauens, auch wenn manche eine abnehmende Tendenz feststellen.

Und warum ist das so?

Das kann mit der Rechtsprechung zusammenhängen. Das kann aber auch mit den Bürgern zusammenhängen. Wir sind heute Teil einer volatilen, einer sprunghaften Gesellschaft. Die individualisierte und mobile Gesellschaft unterrichtet sich aus allen allgemein zugänglichen Quellen, wie das die Verfassung auch erwartet. Das führt aber zum Teil zu schwankenden Stimmungslagen, zu raschen Empörungen, manchmal auch aufgrund von Fehlinformationen oder gar Verschwörungstheorien. In einer Demokratie kommt es auch darauf an, dass die Bürger zu rationalen politischen Einsichten fähig sind. Wichtig ist eine politische Kultur der Urteilsfähigkeit. Und ich bin nicht sicher, ob da nicht ein Mentalitäts- wandel eingetreten ist. Denn in volatilen Gesellschaften verlieren Menschen ein Stück weit ihre Bindungen an Institutionen, an politische Parteien, Gewerkschaften und Kirchen und segeln dann auf eigene Faust und nach eigenem Kompass. Das ist in liberalen Gesellschaften nichts Ungewöhnliches und völlig legitim. Andererseits unterschätzen wir leicht, wie stark wir auf Gemeinschaftsleistungen angewiesen sind, die uns Orientierung geben. Wir haben die intermediären Kräfte der Gesellschaft schrumpfen lassen und das tut für die Stabilität von Demokratien nicht immer gut. Das kann man an der US-amerikanischen Gesellschaft noch schärfer sehen als bei uns.

Wieso?

Weil die USA in einer anderen Weise gespalten sind als das im Dualismus von Regierung und Opposition normalerweise der Fall ist. Die USA sind soziokulturell gespalten. Mit einer Freund-Feind-Wahrnehmung, die man in einem halbwegs fairen demokratischen Wettbewerb eigentlich nicht erwartet. Da werden Hass sichtbar, Verleumdung und Lügen, wie die der gestohlenen Wahl oder auch die geäußerte Verachtung gegenüber einem Supreme Court, der in Abtreibungsfragen anders entscheidet als gewünscht. Hinter der kulturell verfeindeten Lagerbildung lauert sogar die Gefahr eines latenten Bürgerkrieges.

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Bevor wir zu den Bürgern kommen, möchte ich noch die Judikative beleuchten. Hier drängt sich der Eindruck auf, die Justiz gebe sich mit der Aufgabe, Legislative und Exekutive zu kontrollieren und Recht zu sprechen, nicht mehr zufrieden und mache stattdessen Politik. Ich denke etwa an das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Beihilfe zum Suizid aus dem Jahr 2020 oder auch an das Urteil des Ersten Senats zur Sukzessivadoption aus dem Jahr 2013. Bei ihrer Lektüre konnte man jeweils den Eindruck bekommen, die Richter erklärten Politik und Gesellschaft, wo es langzugehen habe. Falsch?

Sie werden verstehen, dass ich mich als ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht dezidiert zu Urteilen seiner beiden Senate äußern möchte. Die Sterbehilfeentscheidung ist von vielen als liberales Signal individueller Selbstbestimmung begrüßt, von anderen aber auch kritisiert worden, weil der Gesetzgeber hier sorgfältig ethisch abgewogen hatte und die gleichwohl erfolgte Beanstandung durch das Gericht zu neuen Problemen für die Legislative auch beim Schutz des Lebens vor den Einflüssen einer sozialtechnisch robusten Gesellschaft führt. Die Selbsttötung des Menschen bleibt immer ein Grenzfall der Verzweiflung und sollte nicht als Alltag der Selbstbestimmung banalisiert werden.

Sie haben es schon erwähnt: In unserem Staatsmodell ist der Bürger der eigentliche Souverän. Manche scheinen sich jedoch stattdessen mit der Rolle von Untertanen zu begnügen. Das kann bequem sein, jedenfalls solange man nicht von Despoten regiert wird. Inwieweit trägt eine solche Selbstverzwergung, sei es aus Trägheit, sei es aus Unwissenheit, zu einer Erosion des Rechtsstaates bei?

Die Französische Revolution hat den Begriff des "Citoyen" geprägt. Citoyen meint nicht nur Bürger, sondern bedeutet auch, den politischen Prozess als etwas zu verstehen, bei dem es um meine, weil unsere Angelegenheiten geht. Das meint nicht, dass sich gleich jeder parteipolitisch engagieren müsste, wohl aber, dass er oder sie aufmerksam verfolgen sollte, was geschieht. Auch hier führt allerdings der Verlust der Bindungskräfte, die große Organisationen wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen in der pluralen Gesellschaft jahrzehntelang besaßen, zu Lücken.

Und worauf führen Sie das zurück?

Ursächlich dafür sind nicht allein Fehler der Organisationen, sondern auch die mangelnde Bereitschaft der Bürger, aktiv aus Vereinigungen heraus Staat und Gesellschaft mitzugestalten, sich in kommunale Ehrenämter wählen zu lassen oder in politischen Parteien mitzuarbeiten. All das lässt sich verstehen. Aber dass da ein Rückgang an Engagement zu sehen ist, kann auch Sorgen bereiten. Das ist eben auch ein Merkmal einer volatilen Gesellschaft. Wer konsequent und über Jahrzehnte in einer seriösen politischen Partei mitarbeitet, der neigt weniger zu rasch schwankenden oder von Verschwörungstheorien getragenen Urteilen und er versteht auch den Zwang zum Kompromiss besser.

"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist." So beginnt das berühmte "Böckenförde-Diktum", von dem meist nur diese beiden Sätze zitiert werden. Tatsächlich geht es aber weiter. In der 1967 erschienenen Festschrift für Ernst Forsthoff führt Böckenförde aus: "Als freiheitlicher Staat" könne der Staat "nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert". Heißt das nicht, dass die "moralische Substanz" der Bürger, Christen könnten auch von Tugenden sprechen, letztlich über Wohl und Wehe oder gar über Gedeih und Verderb ganzer Staaten entscheidet?

Böckenförde hat hier eine universelle Lebensbedingung jeder freiheitlichen Gesellschaft formuliert. Eine wirklich offene Gesellschaft ist am Ende nur so gut, wie jeder einzelne Bürger "gut" ist   und zwar im Sinne moralischer Kompetenz und der praktischen Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Lebensentwurf. Kommt es in diesem sittlichen Fundament der Gesellschaft zu Mängeln, dann passt sich der politische Raum dem an oder die politischen Akteure entfremden sich von denjenigen, die sie gewählt haben.

Katholiken wissen, dass ein Gewissen gebildet werden muss und ein Zusammenhang zwischen Handeln und Erkennen existiert. Kurz: Richtiges Erkennen erleichtert richtiges Handeln und umgekehrt. Und um die Tugenden noch einmal zu bemühen, auch die stellen sich nicht von allein ein, sondern müssen erworben werden. Um das wollen zu können, muss ich aber - ein Anwendungsbeispiel für das soeben Gesagte - ihre Bedeutsamkeit zuvor erkannt haben. Man könnte auch sagen, man müsse Geschmack daran finden. Wie lässt sich das erreichen, ohne dass der Staat moralinsauer wird oder die Gesellschaft einem Tugendterror huldigt? Früher hätte man gesagt, das lernt man in der Familie. Die steht aber heute nicht mehr überall hoch im Kurs.

In unserer Verfassung stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, weil sie ein elementarer Baustein einer freiheitlichen Gesellschaft und einer gelingenden Individualität sind. Das heißt, das Grundgesetz geht nicht davon aus, dass wir als fertige Menschen auf die Welt kommen. Kinder werden in einem familiären Gemeinschaftsraum groß, auch wenn der bei einem alleinerziehenden Vater oder einer Mutter nur zwei Personen zählt. Das, was Artikel 6 als Verantwortungsfreiraum, aber auch als Pflichtenraum der Familie umschreibt, wird in Artikel 7 des Grundgesetzes durch einen staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag ergänzt. Mit anderen Worten, die Erziehung, auch die Erziehung zum Citoyen, zu einem kompetenten, urteilsfähigen Bürger, obliegt sowohl den Eltern als auch dem Staat im Rahmen der komplementären schulischen Bildung. Hier lässt sich allerdings eine Erosion der familiären Gemeinschaftskräfte beobachten. Das liegt vor allem daran, dass wir aus ökonomischen Zwängen heraus nicht mehr so viel Zeit in die Familie investieren können. Es gibt aber auch andere.

Klären Sie uns auf.

Manche gehen so in ihrer Individualität auf, dass sie kaum noch Gemeinschaften bilden wollen. Und dann neigen wir dazu, den Staat als Dienstleister zu betrachten. Sie haben vorhin die sich zu Untertanen "verzwergenden" Bürger ins Bild gehoben. Das würde ich so hart nicht sagen. Aber manche betrachten den Staat wie Kunden ein Unternehmen, an dessen Dienstleistungen wir uns gewöhnt haben. Und wenn wir in der Familie eine Zwangslage haben, dann soll der Staat dafür gefälligst eine Infrastruktur bereitstellen. Und obgleich ich finde, dass wir gut beraten sind, jungen Eltern eine unterstützende Infrastruktur zur Seite zu stellen, müssen wir uns trotzdem fragen, ob wir nicht zu viel externalisieren und ob noch hinreichend verstanden wird, dass im Grundgesetz die Elternpflicht vor der staatlichen Schulpflicht steht, textlich und, wie ich glaube, auch konzeptionell.

Klären Sie uns erneut auf.

Der Mensch kann mit und ohne Kinder glücklich werden. Aber Kinder zu haben, mit Kindern Zeit zu verbringen ist schon eine der größten Freuden und eine der stärksten Investitionen in die Zukunft. Sich für Ehe oder für Kinder zu entscheiden, bedeutet zugleich die Gründung einer neuen Gemeinschaft. Das ist etwas Großartiges, sich in Freiheit zu binden und dann in einer neuen Welt die Freiheit neu zu erleben. Dieser Gedanke, der ist heute ein wenig verblasst. In einer auseinanderdriftenden Gesellschaft sind einheitliche Werte und Erziehungsstandards nicht mehr selbstverständlich. In Brennpunktschulen in Ballungsräumen lässt sich beobachten, dass die Erziehung zu einem Wertesystem, in dem Eigenverantwortung, Selbstentfaltung und Toleranz gegenüber anderen großgeschrieben werden, schwerfällt. Es geht um Mängel, die jemand wie Böckenförde womöglich schon in den 60er Jahren erspürt hat.


ZUR PERSON

Udo Di Fabio, geboren 1954 in Walsum, zählt zu den renommiertesten Verfassungsrechtlern und Gesellschaftsanalytikern in Deutschland. Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen wurde er zunächst Richter am Sozialgericht Duisburg, bevor er an der Universität Bonn zum Doktor der Rechte (1987) und an der Universität Duisburg zum Doktor der Sozialwissenschaften (1990) promoviert wurde. 1993 habilitierte er sich mit einer Arbeit über "Risikoentscheidungen im Rechtsstaat". Nach Rufen der Universitäten Münster, Trier und München folgte er 2003 dem Ruf an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo er seitdem Öffentliches Recht lehrt. Zwölf Jahre lang (1999-2011) gehörte er als Richter dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe an. Udo Di Fabio ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

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