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Tabus der Reproduktionsmedizin

Kinderlosigkeit gilt als Manko, künstliche Befruchtung als Therapie. Sie dient jedoch oft nur der Wahlfreiheit der Eltern und ignoriert das Wohl des Kindes. Von Manfred Spieker
Baby getting out of the tube
Foto: (35740990)

Dass sich ein Ehepaar Kinder wünscht, dass Mann und Frau sich danach sehnen, miteinander und durcheinander Vater und Mutter zu werden und ihre Liebe in der Geburt eines gemeinsamen Kindes Fleisch werden zu lassen, ist Teil der menschlichen, geschlechtsbezogenen Identität. Rund zehn bis 15 Prozent der Paare, die sich Kinder wünschen, haben jedoch Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Unfreiwillige Kinderlosigkeit gilt als Krankheit, die künstliche Befruchtung als deren Therapie. Reproduktionsmediziner rechtfertigen die assistierte Reproduktion mit dem Leiden ihrer Patienten. Die Krankenkassen haben diese Sicht übernommen und die künstliche Befruchtung, wenn auch mit Einschränkungen, als Sterilitätstherapie in ihren Leistungskatalog aufgenommen. Der Begriff Sterilitätstherapie ist freilich irreführend, denn die Sterilität wird nicht therapiert, sondern nur überlistet. Sie bleibt selbst nach einer erfolgreichen Behandlung die gleiche wie zuvor.

Das Kind ist ein Subjekt, dessen Wohl zu beachten ist

Die Legitimität einer medizinischen Intervention bei der Fortpflanzung hängt davon ab, ob sich der assistierende Arzt der Tatsache bewusst bleibt, dass er es nicht nur mit dem Kinderwunsch eines Paares, sondern mit dem Kind als einem dritten Subjekt zu tun hat. Das Kind als eigenständiges Subjekt aber ist das erste Tabu der assistierten Reproduktion. Die Ausblendung des Subjektstatus des Kindes hat die Reproduktionsmedizin dazu geführt, ihr Arsenal zur Erfüllung des Kinderwunsches auszudehnen – über die homologe künstliche Befruchtung hinaus auf Samenspende, Eizellspende, Leihmutterschaft bis hin zum Ropa-Verfahren bei lesbischen Frauen, bei dem eine die Eizelle spendet und die andere nach einer künstlichen Befruchtung mit einer Samenspende die Schwangerschaft austrägt. Das Wohl des Kindes hat für die Reproduktionsmedizin hinter der Reproduktionsfreiheit Erwachsener zurückzutreten. Die Ausweitung des Arsenals der Reproduktionsmedizin wiederum hat zur Folge, dass die Reproduktionsmediziner in Deutschland das Embryonenschutzgesetz von 1990 als Fessel empfinden, ist es doch ein Gesetz zum Schutz des Embryos und nicht zur Realisierung der Reproduktionsfreiheit, weshalb es nur die Befruchtung von so vielen Eizellen erlaubt, wie der Frau, von der die Eizellen stammen, zum Zwecke einer Schwangerschaft implementiert werden können – im Höchstfall drei.

Welche Gründe sprechen gegen die Forderung, das Embryonenschutzgesetz durch ein Reproduktionsmedizingesetz abzulösen? Es gibt eine Reihe pragmatischer Gründe, die gegen diese Forderung sprechen, aber es gibt auch prinzipielle Gründe, die sich aus dem Charakter des menschlichen Zeugungsgeschehens ergeben und die nicht nur gegen das geforderte Reproduktionsmedizingesetz, sondern gegen die assistierte Reproduktion selbst sprechen. Sowohl die pragmatischen als auch die prinzipiellen Gründe setzen voraus, dass bei der Therapie unfreiwilliger Kinderlosigkeit nicht nur die Reproduktionsfreiheit Erwachsener, sondern auch der Standpunkt des Kindes im Auge behalten wird. Die Legitimität einer reproduktionsmedizinischen Intervention hängt also davon ab, dass sich der intervenierende Mediziner der Tatsache bewusst bleibt, dass er es mit einem Subjekt eigener Art zu tun hat, einem Subjekt, das Rechte und Interessen hat, die er wie ein Treuhänder wahrnehmen soll. Er hat sich bei seinem Handeln zu fragen, ob er die Zustimmung des Kindes unterstellen kann. Da dies seine therapeutischen Möglichkeiten beschränkt, blendet der Reproduktionsmediziner den Standpunkt des Kindes in der Regel aus.

In jeder Phase seines Lebens ist der Mensch Person. Der mit der Existenz gegebene moralische Status der Person ist ihre Würde. In keiner Phase seines Lebens existiert der Mensch ohne diese Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so das Grundgesetz in Artikel 1. Weil der Mensch Würde hat, hat er unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte. „Wo menschliches Leben existiert“, so das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1975, „kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen“.

Pragmatische Gründe gegen die künstliche Befruchtung

Mit der Menschenwürde und der aus ihr abgeleiteten Pflicht, alles zu unterlassen, was das Leben des Embryos bedroht, ist die künstliche Befruchtung nicht zu vereinbaren. Die Reproduktionsmedizin spielt mit dem Leben des künstlich erzeugten Kindes. Sie stellt eine große Zahl von Embryonen her, die nie eine Chance haben, geboren zu werden. Sie werden im Vorkernstadium eingefroren oder verworfen. Dies ist ein Verstoß sowohl gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als auch gegen die Würde des Menschen. Nach dem Jahrbuch der deutschen Reproduktionsmedizin 2017 wurden 2016 in 134 reproduktionsmedizinischen Zentren bei knapp 91 000 Behandlungen rund 62 000 Embryonen hergestellt, die zu rund 25 000 Schwangerschaften führten, aus denen rund 17 000 Kinder hervorgingen. Die Erfolgsquote betrug also rund 20 Prozent. Die Verluste werden fahrlässig oder mutwillig in Kauf genommen. Der offenkundigste, weil empirischer Beobachtung am leichtesten zugängliche Verstoß gegen das Recht auf Leben und die Würde des Menschen ist der euphemistisch „Mehrlingsreduktion“ oder „fetale Reduktion“ genannte Fetozid nach erfolgreicher Implantation mehrerer Embryonen, also die Tötung eines Embryos oder mehrerer Embryonen in der Gebärmutter, wenn sich mehr als gewünscht eingenistet haben. Das Jahrbuch 2017 weist 209 „fetale Reduktionen“ aus, bei denen 284 Embryonen getötet wurden. Der Transfer von mehreren Embryonen soll die Chance auf Schwangerschaft und Geburt erhöhen, birgt aber zugleich das tödliche Risiko der „Mehrlingsreduktion“.

Die künstliche Befruchtung zwingt die Eltern zu paradoxen Entscheidungen. Sie wollen ein Kind, entschließen sich aber bei der Mehrlingsreduktion gleichzeitig, eines oder mehrere töten zu lassen, eine Beziehung zwischen Geschwistern zu zerstören und dem überlebenden Embryo ein Heranwachsen an der Seite des getöteten Bruders oder der getöteten Schwester zuzumuten – bleibt der getötete Embryo doch bis zur Geburt des lebenden in der Gebärmutter. Angesichts der Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und insbesondere der pränatalen Psychologie über die Einflüsse psychischer und sozialer Faktoren auf die Entwicklung des Embryos sollte es verwundern, wenn der Fetozid für den verbleibenden Embryo keine Hypothek ist. Auch die Mutter bringt er in eine schizophrene Situation. Ihr Kinderwunsch geht in Erfüllung um den Preis einer Kindstötung. Der Erfolg der In-Vitro-Fertilisation wird erkauft mit ihrer psychischen Destabilisierung, zeigen doch nach Hermann Hepp 70 Prozent sechs Monate nach „Teilfetozid“ Trauer und Bedauern und 18 Prozent eine persistierende Depression (2007).

Bekannte negative Folgen werden ignoriert

Das zweite Tabu: Weitgehend ignoriert wird von den Reproduktionsmedizinern die zentrale Frage, ob Kinder, die nach künstlicher Befruchtung geboren werden, mit negativen gesundheitlichen Folgen rechnen müssen. Behauptete Klaus Diedrich, einer der Protagonisten der künstlichen Befruchtung in Deutschland, noch im Jahr 2000, diese Kinder entwickelten sich wie natürlich gezeugte Kinder, so warnte der Nationale Ethikrat bereits 2003 in einer Stellungnahme, es gäbe nicht nur bei Mehrlingen, sondern auch bei Einlingen nach extrakorporaler Befruchtung Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für Krankheiten und Behinderungen sowie epigenetische Veränderungen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studien, die solche Auffälligkeiten bei Kindern nach künstlicher Befruchtung festgestellt haben. Zu den jüngsten Studien zählt eine Untersuchung des Schweizer Internisten Urs Scherrer vom Insel-Spital in Bern, die im September 2018 im Journal of the American College of Cardiology veröffentlicht wurde. Sie kam zu dem Ergebnis, dass künstlich erzeugte Kinder ein sechsfach erhöhtes Risiko für Bluthochdruck haben. Zahlreiche Zeitungen in der Schweiz wie in Deutschland haben darüber berichtet. Nur die Kommunikationsabteilung des Insel-Spitals verschwieg Scherrers Untersuchungsergebnisse, weil sie „direkt einen anderen Fachbereich der Insel-Gruppe tangieren“, im Klartext der eigenen Reproduktionsklinik schaden würden. Ältere Studien berichten über ein erhöhtes Risiko für Fehlbildungen und Erkrankungen, besonders nach intrazytoplasmatischer Spermieninjektion, für Totgeburten, für Mehrlingsschwangerschaften mit den einschlägigen Gefahren für Mutter und Kind, für postnatale Depressionen und für Präeklampsie (Schwangerschaftsbluthochdruck) bei einer Schwangerschaft nach Eizellspende. Scherrer fordert, bei jeder Krankengeschichte auch Informationen darüber zu erheben, wie ein Kind gezeugt wurde. Das jedoch ist ein drittes Tabu der Reproduktionsmedizin. Eltern, deren Kind auf diesem Weg gezeugt wurde, sprechen nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch während der Schwangerschaft beim Gynäkologen und nach der Geburt beim Kinderarzt nicht darüber.

Prinzipielle Gründe gegen die künstliche Befruchtung

Wäre die assistierte Reproduktion mit der Menschenwürde vereinbar, wenn die Probleme des Fetozids, der Mehrlingsraten, der überzähligen, kryokonservierten Embryonen und der erhöhten Gesundheitsrisiken für das erzeugte Kind gelöst wären, oder gibt es Gründe für eine Unvereinbarkeit von künstlicher Befruchtung und Menschenwürde, die diesen Problemen vorausliegen? Es gibt solche Gründe: Die menschliche Fortpflanzung ist mehr als ein technisches Verfahren. Sie ist die Frucht einer intimen Beziehung von zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, die Frucht ihrer geschlechtlichen Vereinigung, in der Mann und Frau mehr sind als Rohstofflieferanten. Sie ist ein integraler Bestandteil der menschlichen Sexualität. Die Vereinigung von Mann und Frau im Geschlechtsakt ist nicht nur ein physiologischer Vorgang. Sie ist eine kommunikative Praxis von Personen unterschiedlichen Geschlechts, nicht ein Machen oder Herstellen. Sie ist eine gegenseitige Hingabe, die den Leib und die Seele umfasst. Das Kind ist deshalb mehr als das Produkt einer technischen Vernunft. Die leib-seelische Einheit der Vereinigung und des Zeugungsgeschehens geht durch die assistierte Reproduktion verloren. Schon 1985 hat die Evangelische Kirche in Deutschland in einer heute weithin vergessenen „Handreichung zur ethischen Urteilsbildung“ auf die wechselseitigen Abhängigkeiten physischer und psychischer Vorgänge in Zeugung, Schwangerschaft und Geburt hingewiesen und vor dem Verlust der leib-seelischen Ganzheit des Zeugungsvorganges durch die In Vitro-Fertilisation gewarnt. Die katholische Kirche verteidigt den ehelichen Liebesakt in seiner leib-seelischen Ganzheit als den einzigen legitimen Ort, der der menschlichen Fortpflanzung würdig ist. Die Fortpflanzung werde ihrer eigenen Vollkommenheit beraubt, wenn sie nicht als Frucht des ehelichen Liebesaktes, sondern als Produkt eines technischen Eingriffs angestrebt wird („Donum vitae“ 1987).

Was aus Sicht des Kindes dagegen spricht

Es ist von seinen Eltern gewünscht. Das unterscheidet es nicht von den meisten natürlich gezeugten Kindern. Aber es ist im Unterschied zu diesen nicht die Frucht des ehelichen Liebesaktes, die zwar erhofft, aber nie gemacht werden kann, sondern das Produkt des Reproduktionsmediziners. Es verdankt seine Entstehung seinem technischen Verfügungs- und Herrschaftswissen, seinen Konservierungs- und Injektionskünsten, seiner instrumentellen Vernunft, die schon Aristoteles als Poiesis (Zweckhandlung) deutlich von der Praxis als dem richtigen Handeln des Menschen im Hinblick auf sein letztes Ziel unterschieden hat. Das Kind befindet sich in einer existenziellen Abhängigkeit von denen, die es machen, nicht erst dann, wenn es deren Erwartungen nicht erfüllt. Diese bedingte Existenz widerspricht der Symmetrie der Beziehungen, die eine wesentliche Voraussetzung für den egalitären Umgang von Personen ist. Sie widerspricht seiner fundamentalen Gleichheit als Mensch wie auch seiner Freiheit. Jeder will von den anderen anerkannt werden, nicht weil seine Existenz deren Wunsch oder Gefallen entspricht, sondern aufgrund seiner bloßen Existenz. Damit verletzt die künstliche Befruchtung die Menschenwürde, auch wenn der künstlich erzeugte Mensch nach seiner Geburt zum geliebten Kind seiner Eltern wird, sich normal entwickelt und als Mitbürger die gleichen Rechte und Pflichten hat wie jeder andere.

Die assistierte Reproduktion hat den Weg geöffnet für eine Technisierung und Zertifizierung der Zeugung. Der Weg führt vom zertifizierten Qualitätsmanagement des reproduktionsmedizinischen Labors zum Qualitätsmanagement seines Produkts, mithin zu einer eugenischen Geburtenplanung. „Wenn wir eines Tages ein Gen hinzufügen können, um Kinder intelligenter oder schöner oder gesünder zu machen“, so der für seine Entdeckung der DNA-Struktur mit dem Nobelpreis ausgezeichnete James Watson, „dann sehe ich keinen Grund, das nicht zu tun... Wenn wir in der Lage sind, die Menschheit zu verbessern, warum nicht?“ Die eugenische Mentalität wird nicht verheimlicht. Die eugenische Gesellschaft ist die Konsequenz der prometheischen Anmaßung des Menschen, sein Leben nicht mehr als geschenkte Gabe, sondern als eigenes Produkt zu betrachten. Diese Anmaßung führt zu einer neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der den Machern die Gemachten, den biotechnischen Ingenieuren ihre eigenen Produkte gegenüberstehen. Dies untergräbt die Voraussetzung einer freien Gesellschaft, nämlich die ontologische Gleichheit ihrer Mitglieder. An Warnungen fehlt es nicht: Die biomedizinischen Handlungsmöglichkeiten widersprechen, so Joseph Ratzinger, der Würde und der Gleichheit, die Eltern und Kindern gemeinsam sein muss. Das eugenische Bestreben, das Geheimnis der Geburt zu beherrschen, verdirbt, so Michael J. Sandel, „die Elternschaft als soziale Praxis, die vom Standard voraussetzungsloser Liebe bestimmt ist“. Werde die genetische Optimierung erst einmal akzeptiert, dehnt sich die Verantwortung „in erschreckende Dimensionen aus. Eltern werden verantwortlich dafür, die richtigen Eigenschaften ihrer Kinder ausgewählt oder nicht ausgewählt zu haben.“

Ein Reproduktionsmedizingesetz hat nicht das Arsenal der assistierten Reproduktion zu legalisieren, sondern dem Lebensrecht und der Würde des Embryos Geltung zu verschaffen und der Reproduktionsfreiheit Grenzen zu setzen. Die verbreitete Ansicht, technischer Fortschritt ließe sich nicht aufhalten, ist überwindbar. Das Beispiel Kernenergie zeigt, dass auch bei großen Technologien neue Erkenntnisse möglich sind, die zur Umkehr auffordern. Die Menschenwürde gebietet eine solche Umkehr auch in der assistierten Reproduktion.

 

Dr. Nikolaus Hohenberg Vorstandsmitglied

„Ich engagiere mich in der STIFTUNG JA ZUM LEBEN, weil Abtreibung eine besonders perfide Form der Selektion ist, der man speziell in unserer westlichen Welt keine Handhabe geben sollte.“

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