Dass Mark Carney mehr sein könnte als nur ein Übergangs-Premierminister, hätte vor wenigen Wochen noch kaum jemand gedacht. Der politische Quereinsteiger wurde am Wochenende mit überwältigender Zustimmung zum Nachfolger Justin Trudeaus im Vorsitz der Liberalen Partei Kanadas gewählt – und übernimmt damit auch die Regierungsgeschäfte in Ottawa. Beobachter gehen davon aus, dass der erfahrene Banker und Finanzexperte bald Neuwahlen ausrufen wird.
Während die Liberalen in den Umfragen lange abgeschlagen hinter den Konservativen lagen, holten sie zuletzt deutlich auf. Carney könnte sich also durchaus langfristig als Kanadas Regierungschef etablieren. Das liegt wohl auch am US-Präsidenten Donald Trump: Dessen wiederholt geäußerte territoriale Ansprüche auf das kanadische Staatsgebiet sowie der von ihm angezettelte Zoll- und Handelsstreit mit dem nördlichen Nachbarn sorgen inzwischen für den Effekt, dass die Kanadier den Patriotismus neu für sich entdecken – und sich offenbar zunehmend hinter Carney scharen. Ihm trauen sie am ehesten zu, mit seiner wirtschaftlichen Expertise den Muskelspielen Trumps standzuhalten.
Er bedient ein populistisches Feindbild
Blickt man in Carneys Vita, ist das durchaus nachvollziehbar, vermochte der 59-Jährige doch schon so manche Krise zu bewältigen. Als Chef der Bank of England führte er Kanada 2008 durch die Finanzkrise; von 2013 bis 2020 stand der Ökonom, der an den Eliteunis Harvard und Oxford studierte, an der Spitze der Bank of England – und navigierte die Briten mit ruhiger Hand durch die stürmischen Brexit-Gewässer.
Während man Carney die wirtschaftliche Kompetenz kaum absprechen kann, verkörpert er für viele jedoch auch ein klassisches „Feindbild“, gegen das sich in fast allen westlichen Demokratien seit Jahren immer mehr Wähler stemmen: den bestens vernetzten, marktliberalen „Davos-Mann“, Teil einer globalen Finanzelite, die – so der Vorwurf der Kritiker – hauptsächlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist und die Interessen der Mehrheit des Volkes ignoriert. Dass sich Carney als vehementer Warner vor dem Klimawandel einen Namen machte und selbst federführend eine Initiative zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen ins Leben rief, passt da wunderbar ins Bild.
Seltener Erwähnung findet medial allerdings die Tatsache, dass Carney auch praktizierender Katholik ist, der Berichten des „Wall Street Journal“ zufolge mindestens einmal pro Woche die heilige Messe besucht. Und auch im Vatikan ist der Kanadier kein Unbekannter: Womöglich war es die Kombination aus seinem Glauben und der wirtschaftlichen Kompetenz, die ihm einen Sitz im Führungskomitee des vatikanischen Rats für inklusiven Kapitalismus verschaffte.
Gespür für katholische Werte?
Auch hier wurden bereits kritische Stimmen laut, die das 2020 gegründete Gremium allzu sehr in der linksliberalen Ecke sehen. Dass Carney bestens mit global agierenden Organisationen und Initiativen wie dem Weltwirtschaftsforum oder der „Group of Thirty“ vernetzt ist, gebe Aufschluss darüber, von welcher Beschaffenheit sein Katholizismus sei, so der Vorwurf, der jetzt zu hören ist. Carneys Befürworter halten dagegen, dass der verheiratete Familienvater von vier Töchtern durchaus ein Gespür für katholische Werte besitze. Sie zitieren ein von Carney 2021 veröffentlichtes Buch, in dem dieser schreibt, dass es nicht nur um wirtschaftliche Dynamik und Effizienz gehen könnte – sondern eben auch um Werte wie Solidarität, Fairness, Verantwortung und Mitgefühl.
Sollte sich Mark Carney in den bald anstehenden Neuwahlen gegen seinen konservativen Konkurrenten Pierre Poilievre durchsetzen, wird er die Gelegenheit haben zu beweisen, ob es nicht nur ein rein ökonomisches, sondern auch ein katholisches Wertefundament ist, das sein Handeln prägen wird. Eines steht jetzt schon fest: Brexit und Weltwirtschaftskrise zum Trotz – der Umgang mit Donald Trump im Weißen Haus wird sicher die größte Herausforderung seiner bisherigen Laufbahn sein.
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