Man hätte es ihr beinahe abgenommen: Eine Marine Le Pen, die mit Seriosität, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein dazu beiträgt, Frankreich durch eine Phase großer politischer und sozialer Unsicherheit zu navigieren. Die „Brandmauer gegen rechts“ ist in Frankreich spätestens seit der letzten Wahl Geschichte, denn Politik ohne den „Rassemblement national“ (RN) war für Premierminister Barnier, der jetzt ebenfalls Geschichte ist, bei den herrschenden Mehrheitsverhältnissen nicht möglich. Daraus hätte die Partei und ihre Führung endlos Profit schlagen können: erstens durch konstruktives Mitarbeiten und das Aufbauen von Vertrauen und zweitens, indem sie unter Beweis stellt, dass sie unterscheiden kann, wann Verhandlungsbereitschaft und wann Kompromisslosigkeit gefragt sind.
Doch mit einem Handstreich hat Marin Le Pen 10 Jahre der „Normalisierung“ und „Entdiabolisierung“ wieder rückgängig gemacht und gezeigt, dass es ihr mehr darauf ankommt, Emmanuel Macron abzustrafen als gegen kommunistische, antisemitische, islamisierende Tendenzen in der französischen Linken zu kämpfen.
Machtdemonstration anstatt politischer Stabilität
Bei Amtsantritt Barniers gab sich der Rassemblement National staatsmännisch, um sich wohltuend von der auf maximales Chaos setzenden linken „Neuen Volksfront“ abzusetzen. Doch gleich die allererste Gelegenheit haben Marine Le Pen als RN-Präsidentschaftskandidatin und Jordan Bardella als Parteichef ergriffen, um gemeinsam mit den Linken und Linksextremen die Regierung zu zensieren. Damit stürzt das Land in größtmögliche politische Unsicherheit und zwar genau in dem kritischen Moment, in dem die Staatsverschuldung über 1000 Milliarden erreicht hat und politische Stabilität mehr als nötig wäre.
Klar, aus Sicht der RN-Leute sieht die Sache anders aus: Sie hielten eine deutliche Machtdemonstration für nötig, um zu zeigen, dass erstens nur sie die Interessen „des Volkes“ vertreten, und dass zweitens keine gemäßigte Regierung mehr an ihnen vorbeikommt. Doch wie glaubwürdig ist nach dieser Aktion die Versicherung Le Pens, mit dem nächsten Premierminister konstruktiv zusammenarbeiten zu wollen? Marine Le Pen und Jordan Bardella zählen darauf, dass der nächste Premierminister, den Macron hoffentlich schnell ernennt, weiter rechts steht und zu größerer Zusammenarbeit mit der Partei bereit ist.
Konservativ-bürgerliche Wähler abgeschreckt
Eigentlich geht es ihnen natürlich um etwas anderes, nämlich um die nächsten Wahlen. Und die werden ein hochriskantes Kräftemessen mit der ebenfalls erstarkenden extremen Linken. Vor dem Sommer kann es keine Neuwahlen zur Nationalversammlung geben, aber wer weiß, ob nicht vielleicht der Staatspräsident selbst vorher seinen Hut nimmt. In beiden Fällen rechnen sich Le Pen & Co. eine wachsende Wählerschaft aus. Vielleicht setzt Le Pen sogar darauf, Staatspräsidentin zu werden, bevor das im Frühjahr erwartete Urteil im Prozess um Veruntreuung von EU-Geldern ihr möglicherweise das passive Wahlrecht entzieht.
Dass sich die Partei da einmal nicht verrechnet. Denn so mancher patriotisch gesinnter Konservativ-Bürgerlicher, der nicht mehr unbedingt etwas gegen eine Regierungsbeteiligung eines geläuterten, verbürgerlichten „Rassemblement National“ gehabt hätte, wird sich nach diesem Husarenstück zweimal überlegen, ob er sein Häkchen tatsächlich dort macht.
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