Wenn in Frankreich die Rechten gewinnen, brennt in Paris die Straße. Wenn links gewinnt, dann auch. Die Krawallmacher sind jedes Mal die Gleichen und sie kommen nicht aus den Reihen Marine Le Pens. „On est chez nous, on est chez nous!“ („Wir sind hier zuhause“), das war mal der Sprechgesang der rechten Front-National-Proleten.
Gestern Abend sangen ihn vollverschleierte Frauen und Kufja-Träger auf einer von Palästina- und Algerienfahnen überwehten Place de la République, um den Sieg des Linksbündnisses zu feiern, das seit gestern die stärkste Kraft in der Französischen Nationalversammlung stellt. Jedenfalls solange, bis es auseinanderbricht. Allzu lange dürfte das nicht dauern, gehen die inhaltlichen Gemeinsamkeiten der dort versammelten Parteien doch kaum über die Abschaffung der (so dringenden wie unvollkommenen) Rentenreform und des Immigrationsgesetzes hinaus.
Hoher Preis für Brandmauer
Die „Brandmauer gegen rechts“ hat im zweiten Wahlgang der französischen Nationalversammlung ein weiteres Mal gehalten, aber der Preis ist hoch: Frankreich wird in eine Phase großer politischer Instabilität eintreten. Denn wenn Emmanuel Macron mit den Neuwahlen eine klare Mehrheit republiktreuer Parteien schaffen wollte, dann hat er klar versagt. Dass seine Mittekoalition nicht völlig von der politischen Landkarte verschwunden ist, war nur durch ein reines Zweckbündnis mit der von der linksradikalen „France Insoumise“ (LFI) dominierten Neuen Volksfront zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass letztere nun die stärkste Kraft in der Nationalversammlung stellt.
LFI-Chef und Hamas-Apologet Jean-Luc Mélenchon fordert bereits den Posten des Premierministers, obwohl auch das Linksbündnis kilometerweit von einer absoluten Mehrheit entfernt ist und noch nicht einmal seine eigenen Koalitionspartner Mélenchon das Amt des Regierungschefs anvertrauen wollen. Führende Macronisten schließen eine Koalition mit LFI genauso aus wie mit dem rechten Rassemblement National, das nur den drittgrößten Block in der Nationalversammlung stellt. Dem bisherigen Premierminister Gabriel Attal, der heute seinen Rücktritt einreichen wird, wäre es wohl am liebsten, eine heterogene Koalition von den bürgerlichen Républicains über die Mitte bis hin zu Sozialdemokraten und Grünen zu schaffen. Damit wäre das Linksbündnis Geschichte, bevor die Nationalversammlung ein einziges Mal getagt hat. So oder so: Ob sich eine Regierung bilden lässt, die dem Land länger als bis zum nächstmöglichen Termin einer erneuten Auflösung der Nationalversammlung – in einem Jahr – einen klaren Kurs verleiht, ist zweifelhaft, wenn nicht aussichtslos.
Stärkste Partei
Politisch rückt das Land deutlich nach „links“, obwohl die Franzosen mehrheitlich „rechts“ sind. Dem Rassemblement National Marine Le Pens dürfte das Ergebnis letztendlich gerade recht sein: Der Rassemblement National konnte auf ganz Frankreich gesehen die meisten Wählerstimmen auf sich vereinen, was sich jedoch durch das Mehrheitswahlrecht nicht in der Zusammensetzung der Nationalversammlung abbildet. Der Rassemblement National ist trotzdem für sich genommen die stärkste Partei in der Nationalversammlung, was durch das bunt zusammengewürfelte Bündnis am linken Rand untergeht. Der Rassemblement National kann nun einmal mehr die Erzählung von der „geraubten Wahl“ erzählen, der zehn Millionen frustrierte RN-Wähler gerne folgen dürften. Dazu kommt die Frustration auch solcher Wähler, die mit dem RN zwar nichts anfangen können, sich aber auch nicht als Linke verstehen. Das und das politische Chaos, das nun zu erwarten ist, spielt dem Rassemblement National in die Tasche.
Der wird sich übrigens nicht zurücklehnen, sondern die Arbeit fortführen, die er in den letzten Wochen angegangen ist, nämlich in puncto inhaltlicher Kompetenz von einer Oppositions- zu einer Regierungspartei zu werden. 2027 wird es soweit sein.
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