Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Zeitenwende

Eden, Lindemann und die Opfer am Wegesrand

Jenseits von Rammstein: Was an den Vorwürfen gegen Lindemann justiziabel ist - darüber zerbrechen sich Menschen aller Couleur den Kopf. Am besten nimmt man ihn in Schutz. Richtig so?
Rammstein-Sänger Till Lindemann
Foto: Marina Lystseva (TASS) | Ob weibliche Fans gezielt für Till Lindemann rekrutiert wurden, haben Lindemanns Anwälte noch nicht bestritten. Allein diesen Sachverhalt zu kritisieren, ist keine Prüderie.

Kaum einer hat sich nicht zur Causa Lindemann geäußert: Man wägt ab, was an den Vorwürfen gegen Lindemann justiziabel ist, und was nicht; man druckt die berüchtigten Zeilen des Lindemann-Gedichts „Wenn du schläfst“, analysiert die Stellungnahme der Band und die Followerzahlen der Frauen, von denen die Vorwürfe stammen. Buzzwörter wie Machtmissbrauch, Victim-Shaming und Cancel-Culture verleihen dem Skandal den richtigen Spin, damit er für jeden etwas abwirft: Feministinnen schreiben über Misogynie, Kulturanalysten eben über Songtexte und auch notorische Kontra-Geber werfen ihre Netze aus, indem sie Lindemann mit dem Argument „Es war schon immer so“ in Schutz nehmen und dem „Mainstream“ Moralismus vorwerfen. Neben Konservativen gehen ihnen dabei auch Christen ins Netz, fast, als seien sie es mittlerweile einfach gewöhnt, im selben Strom zu schwimmen.

Es reicht nicht, auf Unschuldsvermutungen zu beharren

Zunächst zum oft beschworenen Recht auf Unschuldsvermutung: Was die juristisch relevanten Vorwürfe angeht – dass Frauen unter Drogen gesetzt und vergewaltigt wurden –, so ist es völlig in Ordnung, sein Urteil auszusetzen. Dass falsche Anschuldigungen den Betroffenen nachhaltig schaden und dass auch die Medien dabei Verantwortung tragen, zeigen zum Beispiel die Fälle um Jörg Kachelmann oder Johnny Depp.

Lesen Sie auch:

Allerdings muss man dann konsequent sein und sein Urteil auch über die Frauen aussetzen, die Anschuldigungen machen. Es reicht nicht, auf der Unschuldsvermutung zu beharren, und dann den Frauen unlautere Motive vorzuwerfen, bevor der Sachstand ordentlich beurteilt wurde.

Weibliche Fans wurden gezielt für Lindemann rekrutiert

Abgesehen von den strafrechtlich relevanten Vorwürfen sollte man trotzdem vorsichtig sein, Rammstein kategorisch in Schutz zu nehmen: Für den Fall, dass nur irgendetwas an den Vorwürfen der Frauen dran ist. Dass zum Beispiel weibliche Fans gezielt für Lindemann rekrutiert wurden, haben Lindemanns Anwälte noch nicht bestritten. Allein diesen Sachverhalt zu kritisieren, ist keine Prüderie. Vor allem, da diese Praxis allem Anschein nach in der Branche bekannt und geduldet war.

Auch wenn die Frauen nicht unter Drogen gesetzt wurden, was Lindemanns Anwälte abstreiten, standen sie damit zumindest in der Gefahr, von einem Menschen, der viel mehr Erfahrung und Einfluss hat, ausgenutzt zu werden. Kayla Shyx beschreibt in ihrem Video, wie mit falschen Eindrücken und Verunsicherung gearbeitet wurde, um sie mit anderen Mädchen in die „private“ Aftershow-Party zu schleusen: Ohne Handy, umgeben von Security-Leuten. Zu keiner Zeit war die Rede von sexuellen Praktiken mit Till Lindemann.

Zukunft mit menschlichem Gesicht

Zum Vorwurf der Naivität: Wer nicht schon einmal eine schlechte Entscheidung getroffen oder sich in einer Situation geirrt hat, werfe den ersten Stein. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass viele Menschen, die sich in solche riskanten Situationen begeben, das tun, weil sie ohnehin schon verletzlich sind. Das Christentum hat immer gewusst, dass es Räuber am Wegesrand gibt und solche, die an jemandem, der ausgeraubt wurde, vorbeigehen.

Vor kurzem veranstaltete die „Eden-Culture“-Bewegung in Augsburg ein Fest. Sie lud dazu ein, von einer Zukunft zu träumen, die ein menschliches Angesicht hat. Eine neue Kultur zu begründen, die von Sinn, Schönheit und Verbundenheit lebt. Vielleicht genau das, was wir brauchen, wenn wir heute Maßstäbe an das anlegen, was wir in unserer Gesellschaft wollen. Eine Wende in der Kultur. Eine Kultur, die sich um verletzliche Menschen sorgt, und nicht eine, die an ihnen vorbeigeht mit den Worten „Selber schuld“.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Sally-Jo Durney Christen Jörg Kachelmann Vergewaltigung Zeitenwende

Weitere Artikel

Gérard Depardieu, Jeffrey Epstein, Till Lindemann: In der realen Welt rechtfertigen erst handfeste Beweise Verurteilungen.
04.02.2024, 15 Uhr
Ute Cohen
„Rammstein“-Sänger Till Lindemann soll Frauen für sexuelle Übergriffe gecastet haben – ein Vorwurf, der sich von anderen Fällen durchaus unterscheidet.
10.06.2023, 05 Uhr
Björn Hayer

Kirche

2003 sprach Papst Johannes Paul II. einen Priester heilig, durch dessen geistliche Schule viele der Märtyrer gegangen waren: José María Rubio.
02.05.2024, 11 Uhr
Claudia Kock