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Sebastian Kurz: Gelingt ein politisches Comeback?

Sebastian Kurz tritt als Kanzler ab und rettet seine innerparteiliche Macht. Bleibt Kurz Österreichs jüngster Altkanzler oder gelingt ihm ein Comeback?
Regierungskrise in Österreich
Foto: Georges Schneider (XinHua) | ÖVP-Chef Sebastian Kurz verlässt zwar das Bundeskanzleramt am Wiener Ballhausplatz, aber nicht die politische Arena.

Chaostage in Österreichs Innenpolitik. Zwei Nationalratswahlen hat Sebastian Kurz als ÖVP-Chef fulminant gewonnen, doch keine Legislaturperiode kann er bis zu ihrem regulären Ende durchregieren. Im Mai 2019 endete die 2017 begonnene Koalition mit der FPÖ abrupt am Ibiza-Skandal rund um den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Am vergangenen Wochenende schien es nun einige Stunden lang so, als würde die Anfang 2020 begonnene Koalition mit den Grünen jetzt abrupt an den Skandalen um den ÖVP-Chef selbst scheitern. Nicht um seine doppelte Kanzlerschaft und deren Bilanz geht es dabei, sondern um Altlasten aus der Zeit seines kometenhaften Aufstiegs zum jüngsten Bundeskanzler Österreichs.

Gegen Kurz, den immer noch jugendlich wirkenden Shootingstar der Alpenrepublik, und mehrere seiner Vertrauten wird seitens der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt: Es geht um Untreue und Beihilfe zur Bestechlichkeit. Geprüft wird: Hat das Finanzministerium über Scheinrechnungen mit Steuergeld getürkte Umfragen finanziert, die Kurz glänzen ließen? Waren Kurz-Vertraute und er selbst informiert, involviert, ja Regie führend? Wurde aus parteipolitischen Interessen öffentliches Geld für Inserate ausgegeben und damit eine Gefälligkeitsberichterstattung erkauft? So ungewöhnlich wie die Vorwürfe war nun die Vorgehensweise: Hausdurchsuchungen im Kanzleramt, im Finanzministerium und in der ÖVP-Parteizentrale.

Wer siegt, hat Recht

Weder sensationell noch neu oder überraschend ist: Kurz und seine Vertrauten verfolgten 2016 recht zielstrebig das „Projekt Ballhausplatz“, also die Absicht, den beliebten Außenminister Kurz auf kürzestem Weg in das ebendort befindliche Bundeskanzleramt zu hieven. Dass der ebenso talent- wie glücklose damalige ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner dafür aus dem politischen Weg geräumt werden sollte (und wurde), ist längst ein Stück alpenländischer Zeitgeschichte. In der ÖVP herrscht seit jeher eine Logik der Liebe, an die Sebastian Kurz künftig noch öfter denken wird: Die Herzen aller Mächtigen und nach Macht Strebenden fliegen jenem zu, der Wahlsiege verheißt. Man mag das pragmatisch oder ideologiefrei nennen – in der ÖVP gilt: Wer siegt, hat Recht.

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Alle, auch die nicht-frisierten Umfragen zeigten 2016, dass mit Mitterlehner nicht zu gewinnen sei, mit Kurz aber schon. Und so kam es dann auch: Ersterer warf entnervt hin, Zweiterer übernahm und steuerte in Neuwahlen, die er dann ja auch gewann. Seither versammelte sich die ÖVP in untypischer Harmonie hinter Kurz.

Jedenfalls bis zum vergangenen Freitag. Da nämlich zeigte sich, dass die Nibelungentreue vom Vortag allzu teuer werden könnte. Nicht nur die Opposition fand den Rücktritt des Kanzlers unausweichlich, auch der grüne Koalitionspartner attestierte ihm Handlungsunfähigkeit und forderte von der ÖVP einen „untadeligen“ Kanzler.

Mehr noch: Als die sonst so dissonante Opposition aus SPÖ, Neos und FPÖ einen Misstrauensantrag für Dienstag vorbereitete, mussten sich die Grünen zwischen Koalitionstreue und Wählererwartung entscheiden. Sie zögerten einen Moment, dann war das Projekt Kurzsturz perfekt. Weder die drei Oppositionsparteien (SPÖ, FPÖ, Neos) alleine noch die drei linken Parteien (SPÖ, Grüne, Neos) alleine hätten jedoch eine parlamentarische Mehrheit.

„House of Cards“ auf Österreichisch

Nur zu viert hätten sie einen Misstrauensantrag gegen Kurz durchgebracht. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner signalisierte sogar Entschlossenheit, sich von dieser heterogenen Truppe zur Bundeskanzlerin machen zu lassen. Ein Hasardspiel der Sonderklasse: Die FPÖ steht in der Migrations-, Corona- und Europa-Politik für all das, was den Wählern von SPÖ, Grünen und Neos aus tiefstem Herzen zuwider ist.

Eine rasch gebildete Regierung mit der FPÖ oder von ihren Gnaden hätte monatelanges Chaos gestiftet, die Republik an den Rand der Unregierbarkeit geführt – und jedenfalls in rasche Neuwahlen. Doch der Hass auf das „System Kurz“ schien für ein paar Samstagsstunden auch die breitesten ideologischen Gräben zu überbrücken. Bundespräsident Alexander van der Bellen sprach von einer Regierungskrise, die aber keine Staatskrise sei.

Für die ÖVP-Granden ging es plötzlich um den Machterhalt. Die Treueschwüre vom Vortag waren verweht, das Telefonieren begann. „House of Cards“ auf Österreichisch. Ein Szenario wie nach dem Ibiza-Skandal 2019 – mit einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Kurz, einer Experten-Regierung und Neuwahlen – konnte die ÖVP diesmal nicht wollen. Nicht nur, weil nun Kurz im Zentrum der strafrechtlich wie der ethisch relevanten Vorwürfe steht oder weil eine Niederlage drohen könnte, auch, weil Kurz die Koalitionsoptionen ausgehen könnten. Bis 2017 war er Außenminister einer SPÖ/ÖVP-Koalition, dann regierte er mit der FPÖ, jetzt mit den Grünen. Verbrannte Erde ringsum.

Am Samstagabend, pünktlich zum Start der meistgesehenen ORF-Nachrichtensendung, durchschlug Sebastian Kurz selbst den gordischen Knoten: Er erklärte seinen Rückzug aus dem Bundeskanzleramt. Allerdings nicht ohne dem Koalitionspartner den Schwarzen Peter zuzuschieben, seine Nachfolge selbst zu regeln, seine künftige Machtbasis klar zu definieren und seine Unschuld zu beteuern. Kurz will alle Vorwürfe entkräften („Sie sind falsch“), fühlt sich vom Koalitionspartner verraten und begründete seinen Rücktritt nicht etwa mit den strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihn oder mit dem drohenden Wankelmut seiner Partei-Granden, sondern mit seiner staatspolitischen Verantwortung: „In dieser durchaus kritischen Phase wäre es meiner Meinung nach unverantwortlich, in Monate des Chaos oder auch des Stillstands zu schlittern.“ Ebenso „unverantwortlich“ wäre eine Vier-Parteien-Koalition mit FPÖ-Chef Herbert Kickl, so Kurz' Seitenhieb auf den rot-grün-liberalen Kurzzeit-Flirt mit der FPÖ.

Land geht vor Person

Noch einmal gab Kurz den Staatsmann: In einer so schwierigen Zeit dürfe es nicht um persönliche Interessen, um Partei-Interessen oder politische Taktik gehen. „Denn mein Land ist mir wichtiger als meine Person.“ Mit dieser staatstragenden Geste verzichtete der ÖVP-Chef auf die Kanzlerschaft, „um Chaos zu verhindern und Stabilität zu gewährleisten“. Indem er Außenminister Alexander Schallenberg als Nachfolger nominierte, schlug er den Grünen jedes Argument aus der Hand, die Koalition zu sprengen: Schallenberg war stets persönlich loyal und politisch auf Linie, zählt als Berufsdiplomat schwarzer Provenienz aber nicht zu den Glücksrittern und selbsternannten „Prätorianern“, die Kurz den Weg ins Bundeskanzleramt bahnten.

Doch Sebastian Kurz ist, frei nach Goethes Faust, „zu alt um nur zu spielen, zu jung um ohne Wunsch zu sein“: Der erst 35-jährige Altkanzler bleibt – vorerst jedenfalls – ein mächtiger Player in der innenpolitischen Arena Österreichs. Er bleibt Bundesparteivorsitzender der ÖVP und wurde am Montag zusätzlich Klubobmann (Fraktionsvorsitzender) im Parlament. Als Chef der stimmenstärksten Partei und der mandatsstärksten Parlamentsfraktion kann er den Regierungskurs mitbestimmen ohne für die Details des Regierungshandelns haftbar gemacht zu werden.

Eine Machtbasis ist diese Doppelrolle für Kurz jedenfalls: Vor sechs Wochen erst wurde er mit 99,4 Prozent als ÖVP-Parteichef bestätigt, am Montagabend nun in geheimer Wahl einstimmig zum Fraktionschef gekürt. Innerparteilich kann von einem Kurzsturz also keine Rede sein, auch wenn sich in den Ländern einige in Muskelspielen versuchen.

Am Ende geht es um den Machterhalt

Kurz flüchte vor der Strafermittlung in die parlamentarische Immunität, tönten sogleich die Oppositionsparteien, denen gerade der Termin des für Dienstag anberaumten Misstrauensantrags geplatzt war. Stimmt nicht, echote es aus der ÖVP, man wolle der Aufhebung der Immunität von Kurz selbst zustimmen, damit alle Vorwürfe aufgeklärt, sprich entkräftet werden können. Tatsächlich hat Sebastian Kurz alles Interesse daran, an der juristischen Front für Ruhe zu sorgen – und zwar rechtzeitig vor Neuwahlen, ja bevor sich innerhalb der ÖVP herumspricht, dass die Partei auch oder gar besser mit einem anderen Spitzenkandidaten ins Rennen gehen könnte.

Alexander Schallenberg würde der dann wohl eher nicht heißen. Der vom Bundespräsidenten am Montag abgelobte (vereidigte) neue Bundeskanzler ist Diplomat, aber kein Wahlkämpfer. Und zudem grundloyal: In seiner ersten Ansprache im Bundeskanzleramt versicherte Schallenberg, „selbstverständlich“ eng mit Kurz zusammenarbeiten zu wollen. Auch halte er „die erhobenen Vorwürfe für falsch“ und sei überzeugt, dass sie „am Ende“ entkräftet würden. Genau daran muss Sebastian Kurz allergrößtes Interesse haben.

Denn nicht das von der Opposition so beschriebene – angeschlagene, aber noch intakte – „System Kurz“ sichert ihm eine Spitzenkandidatur bei den nächsten Parlamentswahlen, auch nicht getürkte Umfragen, sondern nur der Machterhaltungstrieb der maßgeblichen ÖVP-Funktionäre. Diese aber wissen, dass sie die Hände nur dann für Neuwahlen frei haben, wenn ihnen keine juristischen Altlasten in den Rücken fallen. Sebastian Kurz kennt die finale Gewissensfrage seiner Parteifreunde, denn er hat 2016 mit ihr gespielt. Sie lautet: Wer kann für uns die Wahl gewinnen? – Für alle genannten Persönlichkeiten gilt die gesetzlich vorgeschriebene Unschuldsvermutung.

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Stephan Baier Sebastian Kurz

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