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Das Parlament blamiert sich

Bei der Impfpflicht hat der Deutsche Bundestag heute die richtige Entscheidung aus den falschen Gründen getroffen. Ein Kommentar.
Bundestag
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Nicht einmal Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) konnte Klarheit in das heillose Durcheinander rund um die Abstimmung zur Impfpflicht bringen.

In der Debatte um die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht hat der Deutsche Bundestag heute die richtige Entscheidung getroffen. Mit zu heißer Nadel war der Kompromiss genäht, auf den sich die Befürworter einer gesetzlichen Impfpflicht erst im Laufe des Dienstags geeinigt hatten, als dass ihm jemand ruhigen Gewissens hätte zustimmen können. Wichtige Fragen blieben bis zuletzt unklar und wurden auch in der dreistündigen Debatte nicht beantwortet.

Jede Menge offene Fragen

Nicht einmal Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) konnte Klarheit in das heillose Durcheinander bringen. Wer soll die verpflichtende Beratung durchführen, die der Kompromiss vorsah? Und wie erfahren die Bürger davon? Wann wird die nachgeschaltete Impfpflicht für alle Personen ab 60 Jahre als erfüllt betrachtet? Nach zwei, nach drei, nach vier Impfdosen? Welche Rolle spielen durchgemachte Infektionen? Oder spielen sie gar keine? Und welche Impfquote soll überhaupt erreicht werden? Fragen über Fragen, die allesamt unbeantwortet blieben.

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Hätte ein handwerklich derart schlecht gemachter Gesetzesentwurf, der so frisch war, dass er noch nicht einmal eine Drucksachennummer vorweisen konnte, im Bundestag eine Mehrheit gefunden, das Geschrei wäre groß gewesen. Zu Recht. Denn staatliche angeordnete Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Bürgerinnen und Bürger kann kein Parlament der Welt mal eben im Vorbeigang beschließen.

Der Wunsch der Opposition nach einer Niederlage von Scholz

Zusammengeführt hat die Befürworter einer gesetzlichen Impfpflicht am Ende nicht der Wunsch nach einer sachgerechteren Lösung, sondern allein die Hoffnung, auf diese Weise doch noch die sich abzeichnende Niederlage im Parlament abwenden zu können. Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Es war keineswegs die ehrfürchtige Scheu vor schwerwiegenden Grundrechtseingriffen, die dem Kompromissvorschlag am Ende ein drittklassiges Begräbnis bescherte. Es war der Wunsch der Opposition, allen voran der von CDU und CSU, die Ampelkoalition öffentlich vorzuführen und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der eine gesetzliche Impfpflicht ab 18 Jahre gefordert hatte, eine krachende Niederlage beizubringen. Das Porzellan, das dabei mutwillig zerschlagen wurde, wird die parlamentarischen Auseinandersetzungen in anderen Fragen sicher nicht erleichtern.

Vertrauen schwer erschüttert

Bei genauerer Betrachtung sind daher heute nicht nur Scholz und Lauterbach gescheitert. Gescheitert ist letztlich auch der Parlamentarismus. Denn wenn es Themenfelder gibt, bei denen sich parteipolitische Ränkespielchen verbieten, dann doch wohl die, bei denen es um die Gesundheit oder gar Leben und Tod des Souveräns geht. Der Deutsche Bundestag hat heute daher nicht nur ein weiteres Mal das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ein sachgerechtes Management der Pandemie schwer erschüttert. Er hat auch das Vertrauen in das staatstheoretische Verständnis erschüttert, nach welchen das Volk der eigentliche Koch und die von ihm für vier Jahren gewählten Vertreter letztlich „nur“ die Kellner sind. Und das ist viel blamabler als die Niederlage der Ampelregierung.

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