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Afghanistan steht am Abgrund

Traurige Bilanz nach fast einem Jahr Taliban-Herrschaft: Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind in Afghanistan an der Tagesordnung. Auch leidet die Bevölkerung unter Hunger.
IS-Waffenlager in Afghanistan zerstört
Foto: Saifurahman Safi (XinHua) | In der Provinz Parwan wurde Anfang Juni ein Waffenlager des IS gefunden. Ein Angehöriger der afghanischen Sicherheitskräfte steht an dem zerstörten Lager.

Terror, Chaos und Elend sind in Afghanistan zurück. Mit dem schmachvollen Abzug der NATO- sowie US-Truppen im Herbst 2021 und der darauf folgenden Machtübernahme durch die islamistischen Taliban erleben große Teile der Bevölkerung erneut Angst und Schrecken. Seitdem sind schwerste Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Trotz aller Beteuerungen der Taliban wird die Freiheit der Menschen  von Woche zu Woche weiter beschnitten. Das bekommen vor allem die Frauen zu spüren.

Eingeschränkte Rechte für Frauen

Obwohl Frauen und Männer nach der Verfassung gleichgestellt waren, konnten Frauen auch vor 2021 ihre Rechte oftmals nur eingeschränkt wahrnehmen. Doch die Taliban höhlen diese Rechte zunehmend aus: Frauen dürfen öffentliche Verkehrsmittel nur noch mit einem männlichen Verwandten benutzen. Generell sollen sie das Haus nicht allein und nur vollständig verschleiert verlassen.

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Vielen Mädchen und Frauen bleibt nichts anderes übrig, als zu Hause zu bleiben. Akademikerinnen ist es verboten, Männer zu unterrichten. Umgekehrt dürfen Studentinnen keine Vorlesungen bei männlichen Dozenten besuchen und nicht mit Männern am Unterricht teilnehmen. Die Taliban hatten Frauen bereits während ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001 untersagt, einer Ausbildung oder Arbeit nachzugehen  und das Haus ohne einen männlichen Verwandten zu verlassen.

Tugend oder Laster? Ministerium entscheidet

Laut einem weiteren Dekret dürfen Freizeitparks in der Hauptstadt Kabul und Umgebung künftig nur noch getrennt von Frauen und Männern besucht werden. So will es das „Ministerium für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters“. Frauen ist der Zutritt demnach von Sonntag bis Dienstag und nur mit Hidschab bekleidet erlaubt. Männer dürfen Freizeitparks von Mittwoch bis Samstag besuchen. Zudem dürfen Frauen ohne männliche Begleitung nicht mehr mit dem Flugzeug reisen.

Die Taliban haben die Fluglinien im Land angewiesen, an Frauen ohne Begleiter keine Tickets für Inlands- und Auslandsflüge mehr zu verkaufen. Doch auch wer Musik macht, Kunsthandwerk verkauft oder schlicht Blumen: Ein Ministerium entscheidet, was „Tugend“ ist und was „Laster“.  Die Taliban setzen in Afghanistan ihr strenges Regime rigoros durch. Ein knappes Jahr ist seit dem Fall Kabuls vergangen. Für einen kurzen Moment gab es damals so etwas wie globale Empathie für die von den Taliban bedrohten Afghanen. Jetzt zeigt sich, wie kurzlebig die Empathie ist.

 

Im Schatten des Ukraine-Kriegs ist das Land am Hindukusch aus dem Brennglas der Aufmerksamkeit entschwunden. „Tatsächlich gerät Afghanistan aufgrund der aktuellen Ereignisse des Ukraine-Kriegs und des Medieninteresses darüber gegenwärtig – wie viele andere Themen auch – in den Hintergrund“, erläutert Caritas  international gegenüber der „Tagespost“. Nur vereinzelt fänden Neuigkeiten wie Attentate, die Verschleierungsvorschrift für Frauen, von Journalistinnen oder die Einschränkung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen den Weg in deutsche Medien. „Das bedauern wir sehr, denn die Menschen in Afghanistan, deren Situation und die Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen vor Ort im Kabuler Büro verdienten mehr Aufmerksamkeit.“ Die Lage in Afghanistan sei in der Tat dramatisch. „Caritas international und unsere Partner führen verstärkt Nothilfe-Maßnahmen durch, dies beinhaltet vorzugsweise Verteilungen von Barmitteln für besonders bedürftige Menschen“, heißt es weiter. Seit der Machtübernahme durch die Taliban am 15. August letzten Jahres hat sich die angespannte humanitäre Lage in Afghanistan nach Caritas-Angaben weiter massiv verschärft.

Höchste Kindersterblichkeit der Welt

Neben dem anhaltenden Konflikt seien auch lange Dürreperioden in den letzten Sommern sowie die Corona-Pandemie für die katastrophale Lage im Land verantwortlich. Nach einer Analyse des Welternährungsprogramms ist fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von akutem Hunger betroffen. Es gehe um 19,7 Millionen Menschen. In der nordöstlichen Provinz Ghor sei die Lage besonders schlimm. Dort seien 20 000 Menschen von „katastrophalem Hunger“ betroffen. Sie hätten nach einem besonders harten Winter kaum Anbaumöglichkeiten für Nahrungsmittel.

Wirtschaftlich steht Afghanistan am Abgrund. Inflation und Arbeitslosenrate steigen stark an, das Bankensystem ist kollabiert. Die USA froren nach der Machtübernahme der Taliban Milliarden-Reserven der Zentralbank des Landes ein. Kontoinhaber können nun nur noch kleine Beträge abheben, es gibt keine Kredite mehr und vielen Afghaninnen und Afghanen fehlt das Geld zum Leben. Die Preise für Lebensmittel haben sich in den vergangenen sechs Monaten verdoppelt, auch Dünger und Treibstoff sind extrem teuer geworden.

Viele Binnenflüchtlinge sind im Land unterwegs

 

Offizielle Stellen prognostizieren, dass neun von zehn Menschen in Afghanistan in Kürze unterhalb der Armutsgrenze leben werden. Die Leidtragenden sind vor allem die Kinder. Laut Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, hat Afghanistan seit 2005 die höchste Kindersterblichkeitsrate der Welt. Bis Ende 2022 werden dort über drei Millionen Kinder unter Nahrungsmittelmangel und Unterernährung leiden.

Da es dem Gesundheitssystem eklatant an Ressourcen und Personal mangelt, bekommen viele Kinder nicht die Hilfe, die sie zum Überleben benötigen. Eine Umfrage der Hilfsorganisation „Save the Children“ ergab, dass mehr als 50 Prozent der Familien keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, vor allem, weil ihnen das Geld dafür fehlt.

In die Berge geflüchtet

Im Fokus der Hilfen stehen auch viele geflüchtete Menschen. Erhebungen der Caritas-Projektpartner vor Ort haben nach Angaben des Hilfswerks ergeben, dass zahlreiche Familien aus afghanischen Provinzstädten in die Berge flüchteten oder vertrieben wurden. Die meisten Befragten gaben demnach an, nicht an ihren Heimatort zurückkehren zu können.

Mit 3,5 Millionen Binnenvertriebenen steht Afghanistan nach Syrien und Venezuela weltweit an dritter Stelle. Allein im Jahr 2021 haben 700 000 Afghanen ihre Heimatorte aufgrund der schlechten Sicherheits- oder Versorgungslage verlassen. Zusätzlich sind 2,2 Millionen afghanische Flüchtlinge in Nachbarländern wie Pakistan und Iran registriert.

Und dann auch noch Anschläge des IS

Verschärft wird die weiterhin dramatische humanitäre Lage in Afghanistan durch das Erstarken dschihadistischer und terroristischer Gruppierungen. Die Not und Perspektivlosigkeit der Menschen erleichtert es ihnen, neue Anhänger zu rekrutieren. Die Folgen sind bereits sichtbar: Die Zahl der Anschläge steigt. So wurden kürzlich nördlich von Kundus mehr als dreißig Menschen in einer Moschee mit Religionsschule getötet. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) reklamierte die Tat für sich.

Die sunnitischen Extremisten betrachten Schiiten als Abtrünnige vom wahren Glauben, obwohl auch sie Muslime sind. Experten befürchten, dass es wegen der Rivalität mit anderen Extremistengruppen zu noch mehr Gewalt kommen könnte. Vor allem der afghanische „Ableger“ des  „Islamischen Staates“, der sogenannte „IS“-Khorasan, macht mit Anschlägen gegen Moscheen, gegen den Kabuler Flughafen oder gegen Einrichtungen der Taliban vermehrt Schlagzeilen, betont ein Infobrief des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags.

Zu Ungläubigen erklärt

Dort heißt es: „Zwischen den afghanischen Taliban und dem ,IS'-Ableger Khorasan besteht – ungeachtet gewisser ideologischer Überschneidungen – überwiegend ein rivalisierendes bis feindseliges Verhältnis. Fundamentale Unterschiede bestehen zunächst in religiöser Hinsicht: Sowohl den Taliban als auch dem ,IS' geht es im Kern offenbar um die Deutungshoheit des dschihadistischen Islamismus.

Die Herrschaft der Taliban wird von dem ,IS'-Ableger Khorasan als ,unislamisch' angesehen. Andersdenkende, auch wenn sie sic Beitrag aus Islamabad auf der Münchner Sicherheitskonferenz: Die in Afghanistan bestehenh selbst als Muslime verstehen, würden vom Islamischen Staat zu Ungläubigen erklärt, die getötet werden könnten.“  Es stellt sich damit die Frage, ob eine Wiederkehr des internationalen Terrorismus zu befürchten ist. Die Instabilität Afghanistans wird anhalten.

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