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Im Pariser „Café Joyeux“bedienen nur Menschen mit Behinderung

Im beliebten Pariser „Café Joyeux“ bedienen ausschließlich Menschen mit Behinderung.
Schauspieler Tony Simonneau ist gerne im „Joyeux“.
Foto: Camille Lorthiois | Der Schauspieler Tony Simonneau ist gerne im „Joyeux“.

Schon von außen lacht das Logo, ein fröhlicher runder Kopf in Gelb, den Besucher an. Am Eingang wird man mit einem herzlichen „Bienvenue au Café Joyeux“ begrüßt, „Willkommen im Fröhlichen Café“. Das kleine Schnellrestaurant ist in einem der zentralen Geschäfts- und Bankenviertel nahe der Pariser Oper gelegen. Dort herrscht rund um die Uhr Rush Hour: An der Kasse nimmt Mathilde die Bestellung auf, sie spricht langsam und ganz leise, tippt ganz sorgfältig das Gewünschte in den Kassencomputer. Ein wohltuender Kontrast zur geschäftigen Außenwelt. Mathilde nimmt sich die Zeit, den Besucher unter ihrer Dienstkappe hervor freudig anzulächeln, auch ein bisschen schüchtern. Die junge Frau hat das Downsyndrom.

Das Café im Pariser Opernviertel ist eines von mittlerweile sieben „Cafés Joyeux“ in Frankreich, weitere sind in Planung. Sie alle liegen an zentralen, gut besuchten Orten mitten in den Innenstädten. Zur Einweihung des Café Joyeux auf den Champs Elysées kam sogar Präsident Emmanuel Macron zu Besuch. Im November wurde ein Café Joyeux in Lissabon eröffnet, im Juni folgt ein erster Ableger in Brüssel. Die Angestellten der Cafés Joyeux sind Menschen wie Mathilde: Autisten, Menschen mit Trisomie 21, Menschen mit leichteren geistigen Behinderungen. Um die Mahlzeiten korrekt zu servieren, sind die Betreiber der Cafés Joyeux auf einen kleinen Genietrick verfallen: Bei Bestellung erhält jeder Kunde – Gast heißt er hier – einen Legobaustein in bestimmter Farbe und Größe. Ein gleicher Legobaustein liegt auf dem Tablett, auf dem die Bestellung vorbereitet wird. So findet die Bedienung problemlos den entsprechenden Kunden und der diensthabende Manager behält leicht den Überblick über die noch offenen Bestellungen.

Hinter der Idee steckt ein katholischer Unternehmer

Das Konzept stammt von dem französischen Unternehmer Yann Bucaille-Lanrezac. Der praktizierende Katholik hat mit seinem Familienunternehmen „Emeraude“ ein Vermögen gemacht, bevor er sich 2010 mit seiner Frau ganz und gar sozialen Projekten zuwendet. Das Ehepaar zieht mit seinen vier Kindern an die nordbretonische Küste und gründet dort die Stiftung „Emeraude Solidaire“ zur Unterstützung von Projekten für benachteiligte Personen. Unter anderem bietet er Segeltouren für alte Menschen, Obdachlose, Prostituierte und Menschen mit Behinderung an. Auf einem dieser Ausflüge bittet ihn Theo, ein junger Autist, um eine Arbeit. Nach dieser Begegnung reift in Yann Bucaille der Entschluss, ein soziales Unternehmen zu gründen, das Menschen mit Behinderung Arbeit gibt. 2017 eröffnet er ein erstes Café Joyeux in Rennes, der größten Stadt der Bretagne. 2020 erhält er den Orden der Légion d'Honneur, verliehen durch Nicolas Hulot, ehemaliger Minister für Ökologie, nachhaltige Entwicklung und Energie.

Versuch einer Skandalisierung scheiterte

2020 versuchte eine Journalistin des „Basta!“-Magazins eine Polemik rund um die „reaktionäre katholische Galaxie“ anzustoßen, zu der Yann Bucaille gehöre. Darin zeigte sie auf, dass dessen Stiftung „Emeraude Solidaire“ zu Projekten und Personen in Verbindung steht, die sich gegen Abtreibung, Homo-„Ehe“ und Leihmutterschaft positionieren. Ihr Vorwurf, der Einsatz von „Emeraude Solidaire“ für Menschen mit Behinderungen werde ideologisch ausgeschlachtet, wies Yann Bucaille in einer Gegendarstellung ausdrücklich zurück. Der Versuch einer Skandalisierung der „Cafés Joyeux“ scheiterte; nach wie vor erhalten die Etablissements eine wohlwollende Aufmerksamkeit seitens der lokalen und nationalen Medien – das Konzept besticht durch seinen Pragmatismus.

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Im März 2022 erhielt Yann Bucaille den Preis des „sozialen Unternehmers des Jahres 2021“ der Boston Consulting Group. Überzeugt hat er die Jury in den Kriterien Innovation, sozialer und ökologischer Impact sowie wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Struktur. So machen laut Yann Bucaille die acht Cafés heute einen Umsatz von fünf Millionen Euro. Neben den Einnahmen aus den Cafés finanziert sich das Unternehmen durch den Verkauf einer eigenen Kaffeemarke mit fair gehandeltem und in Frankreich aufbereitetem Kaffee. „Ich kaufe meinen Kaffee für zuhause nur noch dort“, erklärt Augustin, ein Stammkunde. Die Stiftung „Emeraude Solidarité“ stellt vor allem die Startfinanzierung für neue Cafés bereit. Sämtliche Überschüsse gehen in die Eröffnung neuer Cafés und in die Ausbildung der Angestellten. Tatsächlich können die Angestellten in der kürzlich gegründeten internen Restaurantfachschule eine anerkannte Qualifikation als Restaurantfachkraft erwerben, die es ihnen ermöglicht, auch anderswo eine Stelle zu finden. Heute arbeiten 83 Angestellte mit Behinderung in den Cafés Joyeux, angeleitet von 35 Managern und Gastronomiefachkräften.

Ein Zusammenleben ist möglich

Laut dem „Autismus-Plan 2018“ der Regierung leben in Frankreich rund 700 000 Autisten und 65 000 Menschen mit Downsyndrom. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen dreimal höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Nur 0,5 Prozent der Personen mit einer geistigen Einschränkung sind auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt. „Dabei sind sehr viele von ihnen absolut dazu in der Lage, in normalen Unternehmen zu arbeiten, und wollen das auch“, weiß Camille Lorthiois im Gespräch mit der „Tagespost“. Die junge Frau hat 2018 das Café Joyeux im Pariser Opernviertel eröffnet. Für sie ist das Ziel des Unternehmens, die Zusammenarbeit mit außergewöhnlichen Menschen zu fördern. „Außergewöhnlich, weil sie nicht wie die meisten Menschen sind, aber eben auch, weil es tolle Persönlichkeiten sind.“ Die Beschenkten seien dabei nicht nur die Menschen mit Behinderung: „In unserer heutigen Welt haben wir Angst vor Unterschieden, vor dem Anderen, vor dem Ungewohnten. Das Café Joyeux zeigt: Zusammenleben ist möglich!“ Die Orte seien dafür da, Brücken zu schlagen und fruchtbare Begegnungen zu ermöglichen. „Gerade in der Pariser Finanzwelt mit ihrem Wettlauf um Erfolg und Leistung zeigen die Cafés Joyeux, dass die Schwachheit Teil unserer Welt ist und ihr großen Wert verleiht“, zeigt sich Lorthiois überzeugt. Den durchschlagenden Erfolg der Cafés Joyeux erklärt Camille Lorthiois auch mit dem Leitmotiv der Cafés: „schön, wahr, gut“. Tatsächlich sind die Cafés ausnehmend sorgfältig gestaltet, gehalten in den Farben gelb und grau, mit liebevollen Details an allen Ecken und Enden. Das täglich wechselnde Menü besteht aus frischen, lokalen Bioprodukten und wird vor Ort zubereitet.

Bewältigung sozialer und ökologischer Probleme

Die Sozial- und Solidarwirtschaft französischer Ausprägung zielt auf die Bewältigung sozialer und ökologischer Probleme, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Dazu gehören nicht nur klassische soziale Dienstleister, sondern auch Unternehmen verschiedener Wirtschaftszweige, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung auf besondere Weise Rechnung tragen. Ein solches Sozialunternehmen trägt die Cafés Joyeux, die arbeitsmarktferne Personen beschäftigen. Das Trägerunternehmen hat den Status der „Entreprise Solidaire d'Utilité Sociale (ESUS)“ (Solidarisches Unternehmen mit sozialem Nutzen), der seit 2014 gesetzlich verankert ist. Dieser Status ermöglicht unter anderem den Zugang zu Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln und zu Steuervergünstigungen. Neben der Ausrichtung am sozialen Nutzen müssen die ESUS über eine demokratische und partizipative Unternehmensführung verfügen, sowie den Großteil ihrer Gewinne in das Unternehmen reinvestieren. Individuelle Gewinne der Unternehmensführung sind ausgeschlossen.

Laut dem Staatssekretariat für soziale, solidarische und verantwortliche Wirtschaft, das zum Wirtschafts- und Finanzministerium gehört, repräsentiert die Sozial- und Solidarwirtschaft in Frankreich 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 14 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten in einer Struktur der Sozial- und Solidarwirtschaft. Oft sind es Menschen, die einen besonderen Sinn in ihrer Arbeit suchen. Auch für Camille Lorthiois war der soziale und solidarische Aspekt ausschlaggebend: „Natürlich kann man überall Sinn finden. Ich hätte mich aber nie für die Stelle beworben, wenn es sich um ein normales Café gehandelt hätte. Entscheidend war für mich die Idee, denen Arbeit zu geben, die oft nirgendwo sonst eine bekommen. Am Café Joyeux hat mich überzeugt, dass das Unternehmen gleichzeitig sozial und professionell ist.“

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