Urs Leuzinger, Leiter des Museums für Archäologie des Kantons Thurgau im schweizerischen Frauenfeld, brennt für das, was er tut. Er steht vor den Überresten uralter Weinfässer aus längst vergangenen Jahrtausenden und begeistert seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur mit der Geschichte des Müller-Thurgau-Schmuggels, sondern auch mit den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen über den Weinanbau im Thurgau und am Bodensee: „Dank der Funde alter Gefäße war klar, dass bereits die Kelten Wein in Amphoren hierhergebracht haben. Der aktuelle Nachweis von Weinreben-Pollen in römerzeitlichen Bodenschichten im Thurgau belegt, dass hier ab dem zweiten Jahrhundert nach Christus auch tatsächlich Wein angebaut wurde.“
Einige Jahrhunderte später, im Jahr 1925, schmuggelte Albert Röhrenbach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die ersten Müller-Thurgau-Reben vom schweizerischen Ermatingen über den See und ins deutsche Schloss Kirchberg bei Immenstaad, auf dem sein Vater Johann Baptist Röhrenbach als Verwalter arbeitete.
Reben & Beben
Die früh reifende Müller-Thurgau-Rebe sollte die Qualität des bisherigen Weins verbessern, der kaum genießbar war. Die Rebe wurde vom Schweizer Professor Hermann Müller gezüchtet, mit der Absicht, die guten Seiten des Rieslings und des Silvaners zu kombinieren. Inzwischen ist allerdings bekannt, dass Riesling und Madeleine Royale die Vorfahren des Müller-Thurgaus gewesen sind. Ab 1949 durfte dieser bekömmliche Wein endlich auch auf anderen Flächen angebaut werden. Das benachbarte Historische Museum zeigt unter dem Motto „Reben & Beben“, wie erschütternde Ereignisse die Region geformt und ihre Menschen herausgefordert haben. Auch die Umbrüche im Weinbau im 19. Jahrhundert werden in der Ausstellung thematisiert.
Rund 25 Kilometer entfernt wacht das schweizerische Schloss Arenenberg – einst Heimat von Louis-Napoléon Bonaparte, der als Napoleon III. letzter Kaiser der Franzosen wurde, und seiner Mutter Hortense de Beauharnais – über dem Untersee und der Insel Reichenau. Von hier stammen die geschmuggelten Müller-Thurgau-Reben, die Albert Röhrenbach ans gegenüberliegende deutsche Ufer gebracht hat. Im Auftrag von Hermann Müller, der damals Direktor der Versuchsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil war, wurde diese Weinsorte hier angebaut. Die Trauben profitieren auch heute noch von den langen Sonnenuntergängen, die die Wärme in die Weinberge drücken. Dominik Gügel, Museumsdirektor des Napoleonmuseums, führt durch die Ausstellung und die umgebenden Gärten, begeistert von der Geschichte der einstigen französischen Schlossbewohner und des Weins.
Hier blickt man nicht nur auf eine 2.000-jährige Weintradition, sondern auch auf eine über 600-jährige Gartengeschichte zurück. Heute kann man durch einen herrlichen Landschaftspark mit Grotte, Eremitage und modernem Schulgarten flanieren. Rund um die Gartenpracht gedeihen die Reben – in einer der schönsten Lagen am Untersee. Im Jubiläumsjahr des Müller-Thurgau gibt es im Schloss Arenenberg regelmäßig Veranstaltungen sowie die Sonderausstellung „2.000 Jahre Wein auf Arenenberg“. Die Reben sind der rote Faden der Ausstellung durch die Geschichte des Arenenbergs. Die multimediale Inszenierung findet im bislang verschlossenen, historischen Weinkeller statt sowie im „Cinéma“, der einstigen Küche, die versteckt unter einer schweren Bodenplatte liegt und sich ebenfalls erstmals für die Öffentlichkeit hebt.
Vom Rebenschmuggel zur Weinlegende
Über den Seerhein und den Bodensee sind es nur rund 20 Kilometer bis nach Meersburg und nach Deutschland. Hier zeigt das Vineum bis November die Sonderausstellung „100 Jahre Müller-Thurgau – vom Rebenschmuggel zur Weinlegende.“ Die Sonderausstellung beleuchtet die Hintergründe des Schmuggels und bietet Einblicke in die Weinregion vor über 100 Jahren. Dabei geht es um Mut und Willenskraft, um Schmuggelgeschichten und den kleinen Grenzverkehr, der letztendlich den großen Erfolg der Müller-Thurgau-Rebe am Bodensee ermöglichte. Interaktive Erlebnisse und historische Exponate lassen dabei in die Geschichte einer Rebe eintauchen, die Grenzen überschritt – und zur Weinlegende wurde. Die alte Torkel im Museumsgebäude ist von Anfang 1600. Um die Weinpresse wurde erst nachträglich ein Gebäude errichtet. Vor knapp zehn Jahren hat das Vineum dann dort seine Ausstellungsräume eröffnet. Es ist zum Ort für Wein, Kultur und Geschichte geworden, an dem verschiedene Erlebnisstationen die Weinwirtschaft am See erläutern. In der atmosphärischen Kulisse des historischen Dachstuhls werden die Ereignisse durch multimediale Installationen lebendig. Führungen mit Weinprobe durch die Sonderausstellung finden noch bis Ende Oktober statt.

Gut zehn Kilometer weiter, im Hinterland, liegen Schloss und Kloster Salem. Es zählt zu den schönsten Kulturdenkmälern am Bodensee. Die einst mächtige Abtei der Zisterzienser vereint gotische Würde mit barocker Pracht. Bernhard Strigel, Maler aus Memmingen, schuf 1507 einen Altar für die Marienkapelle im Kloster Salem, das 500 Jahre Klostergeschichte widerspiegelt. Im 19. Jahrhundert machten die Markgrafen von Baden die riesige Klosteranlage zu ihrem Schloss. Die in früheren Zeiten von den Mönchen bewirtschafteten Rebflächen profitieren von uralten Bodenablagerungen aus der Eiszeit – Moränenschotter genannt – sowie der Nähe zum Bodensee. In den Weinkeller führt Volker Faust, Gesamtbetriebsleiter für das Weingut. Das besondere Terroir verleiht auch dem Müller-Thurgau eine angenehme Frische und Leichtigkeit. Im Weinladen im Schloss oder bei den Weinproben ist der Müller-Thurgau ein beliebter Tropfen.
Gut 75 Kilometer entfernt geht es zurück in die Schweiz, zur Kartause Ittingen bei Frauenfeld. Hier, fast wieder am Startpunkt der Weinreise angelangt, findet die letzte Begegnung mit der Jubiläums-Weinrebe statt. Die Geschichte der Kartause Ittingen ist über 900 Jahre alt, geprägt durch den Wandel – von der Burg zum Kloster unter dem Einfluss des Kartäuserordens bis hin zur heutigen Stiftung. Auf dem Weg durch das Museum der Anlage führt Corinne Ruegg, auch in die alten Weinkeller, wo Auszüge aus antiken Weinverkaufsbüchern Auskunft über die Bedeutung des Weinhandels für die Kartause seit dem 17. Jahrhundert geben. Die Reben an der zur Thur abfallenden Südlage prägen das Umland der Kartause. Die Hauptweißweinsorte, die hier wächst, ist Müller-Thurgau, der sortenrein ausgebaut wird. Die Rebsorte, die vom Schweizer Hermann Müller gezüchtet und am Bodensee weiterkultiviert wurde, hat ihren Siegeszug von hier in die weite Welt geschafft – als milder und fruchtiger Wein. Wie sagt man hier so schön: Proscht!
www.archaeologiemuseum.tg.ch
www.historisches-museum.tg.ch
www.napoleonmuseum.tg.ch
www.vineum-bodensee.de
www.salem.de
www.markgraf-von-baden.de
www.kartause.ch/de
Die Autorin ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Reisen.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.