Die Szene scheint filmreif. Die komplett in ein schwarzes Tuch gehüllte Frau, die zuvor völlig regungslos wie eine Statue ganz alleine auf dem riesigen Vorplatz der Basilika De Nossa Senhora das Dores gestanden hatte, betritt das Gotteshaus. Im Mittelgang wirft sie sich zu Boden, mit ausgebreiteten Armen – in innigstem Gebet. Niemand in der Schar der dicht gedrängten Gläubigen in der Kirche zeigt sich irritiert. So ein Verhalten ist hier bekannt; als Ausdruck der völligen Unterwerfung in der Gegenwart Gottes. „Vielleicht hat sie eine schwere Verfehlung begangen“, wird in der Menge leise getuschelt.
„Paixão“ heißt das da; das bedeutet Hingabe und Leidenschaft. Das bringen die meisten der wenig bemittelten Pilger hierher mit. Viele Gebete und Wünsche für ein besseres Leben, für sich und alle ihre Angehörigen, das ist es, was die Mehrheit der Pilger nach Juazeiro do Norte drängt. Eine Hängematte, den Rosenkranz und einen Trinkbecher, viel mehr haben sie oft nicht im Gepäck.
Touristen aus Europa dürften selten nach Juazeiro do Norte finden. Allzu abgelegen liegt dieser Ort im trockenen Hinterland Brasiliens, mehr als 500 Kilometer von der Meeresküste entfernt. Er befindet sich im Polygon der brasilianischen Bundesstaaten Ceará, Rio Grande do Norte, Paraíba und Pernambuco. Die Stadt mit mehr als einer Viertelmillion Bewohnern hat zwar einen Flugplatz, aber all die Pilger reisen fast ausschließlich in Bussen hierher – teils in komfortablen, teils in bedenklich scheppernden – oder auf den Ladeflächen von Lastkraftwagen. Es sind Tausende, die jeden Tag hier ankommen. Viele haben bis zu tausend Kilometer auf diese Weise zurückgelegt. Oftmals schlafen sie in ihren Matten unter Bäumen oder gegen ein kleines Entgelt auf dem Boden von „Pousadas“, von geschäftstüchtigen Vermietern. Für ein Mitbringsel vom Markt mit den frommen Souvenirs werden aber gerne ein paar Reals spendiert.
Die Stadt erscheint eigentlich nur dank eines einzigen Mannes überhaupt auf der Landkarte. Sein Name: Padre Cícero Romão Batista (1844–1934). Als Priester setzte er in Juazeiro rund um sein Anwesen neue landwirtschaftliche Bewirtschaftungsmethoden durch und gewann den Ruf, ein Vorkämpfer für die Anliegen der Besitzlosen zu sein. Er hatte immer ein Ohr und einen Rat für die Armen und Rechtlosen. Damals war Juazeiro nur eine kleine Ansiedlung nahe dem Städtchen Crato.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde
Eine solche blieb sie bis zum angeblichen Hostienwunder, das sich 1889 bei einer Messe von Padre Cícero ereignete. Es wurde im Kirchlein dafür gebetet, dass die Region von einer weiteren Trockenzeit verschont bleiben möge. Bei der Kommunion verwandelte sich im Mund der „Beata“ Maria de Araújo (einer Drittordensangehörigen) die Hostie zu Blut. Das Blut von Christus, so war die geschockte Gemeinde überzeugt.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Wunder im ganzen Sertão und bis an die Küste. Was half es, dass untersuchende Mediziner befanden, die Frau sei wohl unheilbar tuberkulös und das Blut eine natürliche Erscheinung? Was kümmert es das Volk, dass die Bischöfe das Wunder Padre Cíceros nicht anerkennen wollten? Nichts. Als in den Gebetsandachten von Padre Cícero alsbald Kranke geheilt wurden, wurde er bereits als Heiliger verehrt. Der Ansturm zu ihm wurde gewaltig.
Die vermeintlichen Wunder und die Popularität des Padre lösten bei der Kirche unterschiedliche Reaktionen aus: Ein Teil des Episkopats begrüßte Padre Cíceros Wirken als Unterstützung im Kampf gegen den säkularen, liberalistischen Zeitgeist. Zugleich bezweifelten kirchliche Behörden die Wunder. Den religiösen Fanatismus, der sich um Cícero herum entwickelt hatte, betrachteten sie als unvereinbar mit der Lehre der Kirche. Befürchtungen wurden laut, Cíceros Bewegung könne zu einem Schisma führen.

Als das Bistum Cícero Romão Batista die Ausübung seines Priesteramts untersagte, fügte sich dieser der Weisung. Er war jedoch nicht bereit, Juazeiro zu verlassen. Den Menschenmassen, die sich täglich vor seinem Haus versammelten, erteilte er weiterhin seinen Segen. Auch soll er weiterhin Messen gehalten haben. 1898 wurde Cícero von Papst Leo XIII. nach Rom gerufen und dort von Vertretern des Heiligen Offiziums – der Vorgängerbehörde der heutigen Glaubenskongregation – empfangen. Die Suspendierung als Seelsorger von Juazeiro durch den Bischof wurde vorerst aufgehoben. Doch trotz Cíceros Willen, den Bruch mit der Kirche zu vermeiden, wurde er gegen Ende seines Lebens exkommuniziert. Bis zu seinem Tod im Juli 1934 lebte er als Bürgermeister von Juazeiro und geschätzter Ratgeber in weltlichen und religiösen Belangen.
Das Ansehen des nahezu frenetisch verehrten Paters nahm nach dessen Tod noch zu und Juazeiro do Norte wurde zum Heils- und Wallfahrtsort für Abertausende. Aber der Status ihres „Heiligen“ blieb für die Menschen Nordost-Brasiliens mehr als 100 Jahre lang heikel: Die katholische Kirche hatte ihre liebe Not mit dem inoffiziellen Kult um den Padre. Der in Brasilien glühend verehrte Gottesmann für Rom eine Persona non grata? Das Idol von Millionen Katholiken ein vom Vatikan Exkommunizierter?
Bischof bemühte sich um Rehabilitierung
In der römisch-katholischen Diözese von Crato, 1914 geschaffen, wuchs die Überzeugung, man müsse die Millionen Verehrerinnen und Bewunderer Cíceros im Nordosten Brasiliens mit Rom versöhnen. Jahrelang bemühte sich Bischof Fernando Panico um eine Rehabilitierung durch den Vatikan. Es war der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, zu jener Zeit Präfekt der Glaubenskongregation – der seine helfende Hand anbot und den Prozess entscheidend voranbrachte. Abgeschlossen wurde er vor fast zehn Jahren, kurz vor Weihnachten 2015, als Bischof Panico einer jubelnden Menge verkünden konnte, dass Papst Franziskus Cíceros Exkommunikation aufgehoben habe.
2016 zelebrierte der Generalsekretär der brasilianischen Bischofskonferenz Leonardo Ulrich Steiner in Juazeiro vor Tausenden Gläubigen eine Messe. „Ich bin tief beeindruckt von der Kraft des Glaubens und des Gebets hier in der Stadt von Padre Cícero“, sagte der deutschstämmige Weihbischof damals.
Die Verehrer von Cícero setzen sich nun heute intensiv für eine Selig- und eine anschließende Heiligsprechung ihres Idols ein. Auf dem Hügel Horta nahe der Stadt, wo das Abbild des Padre als 25 Meter hohe Statue in den Himmel ragt, steht auch sein einstiges Wohnhaus, das nun ein Museum und Sanktuarium ist. An Belegen für Wunder dürfte es eben da nicht mangeln: Die Sammlung der Votivgaben an den Wänden wird jede Woche länger. Auch das Trikot eines berühmten Fußball-Nationalspielers ist dabei. Gewidmet dem Padre vielleicht als Dank für ein spektakuläres Tor oder mit der Bitte um ein wundersames nächstes?
Der Autor ist Journalist mit Schwerpunkt Brasilien.
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