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Dankbarsein kann man üben

Gerade, wenn in der Familie alles drunter und drüber geht, tut man gut daran, sich zu erinnern, was man aneinander hat, meint Tobias Klein.
Verzweifelter Vater
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Im Familienchaos irre werden? Nein, lieber dankbar sein. Das kann man lernen, schreibt unser Kolumnist.

Unser Einstieg in die Herbstferien verlief außerordentlich chaotisch. Am letzten Schultag äußerten unsere fast achtjährige Tochter und eine ihrer besten Freundinnen spontan den Wunsch, zusammen zu übernachten; in Absprache mit den Eltern des anderen Mädchens entschieden wir, dass das bei uns stattfinden sollte – nachdem vor einigen Wochen unsere Tochter bei dieser Freundin übernachtet, dort aber kaum Schlaf bekommen hatte und in der Folge noch tagelang mürrisch und reizbar gewesen war. Diesmal musste meine Frau nach dem Beginn unserer üblichen Nachtruhezeit noch zweimal den Kopf durch den Türspalt zum Kinderzimmer strecken und die Kinder zur Ruhe ermahnen, danach schien erst einmal alles in Ordnung zu sein; aber irgendwann mitten in der Nacht kam unsere Tochter dann doch ins Schlafzimmer geschlichen und klagte, im Kinderzimmer könne sie nicht schlafen. „Dann komm doch zu uns“, boten wir ihr an – woraufhin sie vom Fußende her unter meine Bettdecke kroch. Noch ehe ich sie fragen konnte, ob sie sich nicht lieber anders hinlegen wolle, war sie eingeschlafen.

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Am nächsten Morgen gab es einigen Ärger um unerlaubt aus der Küche und dem Wohnzimmer ins Kinderzimmer verschleppte Gegenstände, aber bald darauf mussten wir auch schon los zu einer Spielplatzverabredung mit einer befreundeten alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn. Die Freundin unserer Tochter kam kurzerhand dorthin mit, bis sie – unter Protest – von ihrem Vater abgeholt wurde. Unterwegs trafen wir noch die Mutter einer weiteren Schulfreundin, die uns bat, für den bevorstehenden Geburtstag ihrer Tochter einen Kuchen zu backen. Die Kinder waren den ganzen Tag laut und chaotisch, mal mussten wir Streit schlichten, weil sie sich nicht einigen konnten, was sie spielen wollten, mal mussten wir sie davon abhalten, gemeinsam Unfug auszuhecken. Gegen Abend kamen unsere Freundin und ihr Sohn noch mit zu uns, zum gemeinsamen Kochen und Essen; und zur Krönung des Tages brach die obere Etage des Doppelstockbetts im Kinderzimmer zusammen, nachdem alle drei Kinder zugleich hinaufgeklettert waren. Unsere Frage, ob sie auf dem Bett herumgehopst seien, verneinten sie standhaft. Genau werden wir es wohl nie erfahren.

Glücklicherweise hat meine Frau vor ein paar Wochen ein neues Abendritual eingeführt, bei dem jeder von uns zum Abschluss des Tages etwas nennt, wofür wir an diesem Tag dankbar waren. Wir kommen nicht jeden Abend dazu, aber an diesem Abend musste es unbedingt sein – und mein vierjähriger Sohn meinte, ich solle anfangen. Na herzlichen Dank. Ich nahm die Herausforderung an, aber mir fielen nicht viel mehr Gründe zur Dankbarkeit ein, als dass wir diesen Tag so einigermaßen überstanden hatten und jetzt schlafen gehen konnten. Ich war geradezu beschämt, als meine Tochter daraufhin sagte, sie sei dankbar, dass beim Einsturz des Bettes niemand verletzt worden sei. Meine Frau fügte hinzu, sie habe erfahren, dass der Vater des Mädchens, das bei uns übernachtet hatte, demnächst für einige Monate im Ausland arbeite und während dieser Zeit nur jedes zweite Wochenende nach Hause kommen könne, und sie sei dankbar, dass das bei uns nicht so sei und wir als Familie jeden Tag zusammen seien.  Was ich damit sagen will, ist: Dankbarkeit kann (und sollte) man üben. Auch dann, wenn einem gerade gar nicht danach ist – ja, dann sogar besonders.

Der Autor studierte Theaterwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Er hat zwei kleine Kinder und lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Tobias Klein

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