Herr Koch, was versteht man unter Notfallseelsorge?
Wir helfen Menschen in akuten Notsituationen. Etwa 85 Prozent unserer Einsätze führen in Privathäuser: Zum Beispiel, wenn dort der Ehemann von jetzt auf gleich Witwer geworden ist oder wenn das Baby plötzlichen einen Kindstod erlitten hat. Auch begleiten wir bei Kriminalfällen die Polizisten. Wurde jemand vermisst und ist tot gefunden worden, begleiten wir auf Anforderung die Beamten bei der Überbringung der Todesnachricht. Ungefähr zehn Prozent der Einsätze finden im außerhäuslichen Bereich statt, zum Beispiel im Straßenverkehr. Hierbei kümmern sich Notfallseelsorger normalerweise um Zeugen oder mittelbar Betroffene, die ihre Eindrücke verarbeiten müssen. Wir begleiten aber auch Menschen, die Schuld auf sich geladen haben: Wer etwa aus Versehen mit seinem Auto ein Kleinkind totfährt, steht unter Schock und braucht meist Unterstützung. Der überbleibende Anteil unserer Arbeit betrifft größere Einsätze wie die Amokfahrt in Mannheim. Dazu zählen ebenso Flugzeugabstürze oder Einsätze wie nach dem Unglück bei der Loveparade in Duisburg.
Wie werden sie alarmiert?
Allgemein kann uns nur die Feuerwehrleitstelle anrufen, für Privatleute ist das technisch unmöglich. Die Feuerwehr, der Rettungsdienst oder die Polizei entscheiden, ob wir gerufen werden müssen oder nicht. Es gibt ein Notfallseelsorgesystem in einem definierten Bereich, der normalerweise zu einer bestimmten Feuerwehrleitstelle gehört. Jeder Bereich verfügt dann oft über etwa 40 ehrenamtliche Seelsorger, die die Bereitschaftsdienste - unter der Leitung Hauptamtlicher - unter sich aufteilen.
Wie ist die Notfallseelsorge in Deutschland entstanden?
Über die Feuerwehr, den Rettungsdienst und die Kirche. Das war ungefähr zu Beginn der 90er-Jahre. Damals fragte man sich, was mit Menschen passiert, die von einer größeren Schadenslage, Unfällen oder plötzlichen Todesfällen im persönlichen Umfeld betroffen sind. Früher hat die Kirche im Dorf sie automatisch versorgt. Aber damals fehlte so eine Begleitung eben. Darum sind einzelne Pfarrer auf die Idee gekommen, so etwas einzurichten. Es gibt kein ganz genaues Entstehungsdatum der Notfallseelsorge. Einzelne Vorfälle haben sie aber vorangetrieben. Dazu gehören das Flugunglück 1988 bei Ramstein mit 70 Todesopfern, und der ICE-Unfall von Eschede zehn Jahre später mit mehr als hundert Toten.
Wer wird Notfallseelsorger?
Ursprünglich haben nur hauptamtliche Seelsorger diesen Dienst übernommen. Dann gab es verschiedene Systeme mit Pfarrerinnen und Pfarrern, Priestern, Diakonen und pastoralem Personal. Sie haben einfach mitgearbeitet und Einsätze übernommen. Über die Zeit hat sich das professionalisiert. Mittlerweile sind klare Richtlinien und Ausbildungsstandards festgelegt. Viele Notfallseelsorger arbeiten ehrenamtlich; sie werden von Hauptamtlichen betreut. Das macht aus meiner Sicht viel Sinn, sonst könnten wir gar nicht so viel leisten. Diese Ausbildungsstandards haben beide Kirchen und die großen Hilfsorganisationen gemeinsam festgelegt, schon 2013. Sie entspringen einem längeren Konsolidierungsprozess, den staatliche Akteure und Kirchen miteinander durchgeführt haben.
Wer bildet aus?
Da gibt es unterschiedliche Handhabungen. In Nordrhein-Westfalen haben wir ökumenisch vereinbart, dass eine Ausbildung dann lokal gemacht werden darf, wenn eine Landeskirche oder ein Bistum sozusagen als Träger der Ausbildung auftritt, um die Qualität zu sichern. Aber auch hier werden weitere Standards noch auf den Weg gebracht und stetig weiterentwickelt. Früher hat das örtliche Notfallseelsorgesystem immer selbst ausgebildet.
Kann man aus der Notfallseelsorge etwas für die Seelsorge allgemein lernen?
Ja, unbedingt. Das ist wechselseitig der Fall. In der allgemeinen Seelsorge hat man viel Zeit und trifft Menschen in relativ normalen Situationen an. In der Notfallseelsorge begegnen wir Menschen, die unter Schock stehen und akute Belastungsreaktionen zeigen. Und die ticken anders. In einer solchen Situation lassen sich meist keine klassischen pastoralen Gespräche führen, weil die Betroffenen in den ersten vier oder fünf Stunden dazu nicht in der Lage sind.
Bei einem häuslichen Todesfall geht es vielmehr zunächst um die Realisierung des Todes und den Abschied vom Leichnam. Der kann im Notfall ganz einfach mit einem Teelicht und selbst formulierten Gebet vollzogen werden. Meistens sind wir dann nach drei Stunden wieder weg und arbeiten auch nicht mehr nach. Natürlich verweisen wir auf Angebote in der Gemeinde oder im Ort und auf die Telefonseelsorge.
Man lernt also, mit Leuten in den Situationen umzugehen, in denen sie gerade sind, ihnen in einer existentiellen Krise beizustehen und gewünschte Rituale ganz klein zu gestalten. Die Menschen sind dankbar, wenn man ihnen durch das schlichte Dasein, die schlichte Solidarität zur Seite steht. Es ist eine wichtige Visitenkarte der Kirche, diesen diakonischen Dienst zu leisten. Oft heißt es, „damals, als meine Frau gestorben ist, war jemand von der Kirche da, und das war gut“.
Herr Koch, sie sind ausgebildeter Polizist, Diakon, und haben viele Jahre Erfahrungen in der Notfallseelsorge gesammelt. Woran liegt es aus ihrer Sicht, dass psychische Erkrankungen und Anschläge heutzutage so oft vorkommen?
Es gibt viele Menschen, die aus Kriegsgebieten zu uns gekommen sind. Wir wissen nicht, was sie dort alles erlebt haben. Psychische Traumata oder schwere emotionale Belastungen sind da leider häufig normal. Auswirkungen können in extremen Einzelfällen natürlich katastrophal sein. Warum auch andere Menschen, die in Deutschland leben, heutzutage offenbar häufiger derart psychisch instabil zu sein scheinen, dass manchmal sogar Anschläge oder andere Gräueltaten die Folge sind, kann ich nicht erklären. Das ist angesichts der komplexen gesellschaftlichen Situation sicher auch eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt.
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