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Jawdat Said: Der muslimische Gandhi

Der syrische Philosoph Jawdat Said ist mit 90 Jahren als Flüchtling in der Türkei gestorben.
Philosoph Jawdat Said (1931-2022)
Foto: Dr. Ali Al Qaradaghi/Twitter | Philosoph Jawdat Said (1931-2022).

Seine Wollmütze machte ihn, wie die selbst gewebte Tunika seines Vorbildes Mahatma Gandhi, von weitem unter Tausenden erkennbar. Jawdat Said gilt als einer der ersten muslimischen Denker, der das Konzept der Gewaltlosigkeit in die islamische Welt einführte. Dem 1931 im syrischen Golangebirge geborenen Tscherkessen war die Gewaltlosigkeit, anders als bei Gandhi, nicht in die Wiege gelegt. Die Tscherkessen und Tschetschenen, die ursprünglich aus dem Kaukasus stammen, wo sie lange den Russen Widerstand leisteten, wurden wegen ihrer Kriegstüchtigkeit in besonders widerspenstigen Gebieten des Osmanischen Reiches angesiedelt. Dort sollten sie als Hilfstruppen der Türken Aufstände der Araber niederschlagen. Als Jawdat Said 1931 in dem kleinen Tscherkessendorf Bi?r Ajam im Golan geboren wurde, waren zwar die Osmanen schon längst Geschichte, aber ein anderer Konflikt zeichnete sich im Golan-gebirge bereits ab, der israelisch–arabische Konflikt.

1946 ging Said nach Ägypten und studierte an der Islamhochschule Al-Azhar arabische Philologie. Kairo war das Zentrum der arabisch-islamischen Renaissance (al-nahda), hier wirkten Jamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida. Im Jahr 1952, dem Jahr der antikolonialen Revolution von Gamal Abdel Nasser, schloss Said sein Studium an der Al-Azhar ab. In den 1950er Jahren lernte Said die Arbeit des Algeriers Malik Bennabi (gest. 1973) kennen, der es ablehnte gegen die Kolonialmacht zu kämpfen und diese auch nicht wie al-Afghani, Abduh oder Iqbal für alle Missstände in der muslimischen Welt verantwortlich machte. Bennabi vertrat die Ansicht, dass die muslimische Rückständigkeit nur mit neuen Ideen und nicht mit Waffen gelöst werden könne. „Die krankhafte Verehrung der muslimischen Welt für physische Gewalt hat die Entwicklung von Wissen verhindert“, argumentierte Bennabi. Wie Bennabi zeigte Said großes Interesse an den Werken von Muhammad Iqbal, der die Notwendigkeit einer spirituellen und politischen Wiederbelebung des modernen Islams betonte.

Islamische Gewaltlosigkeitslehre

Durch sein Studium der arabischen Philologie in Kairo hatte Said fundierte Kenntnisse des Korans erlangt, aus diesem zog er seine Kraftquelle für seine islamische Gewaltlosigkeitslehre. Vor allem die Geschichte von Adams beiden Söhnen, Kain und Abel, die in der fünften Sure des Korans steht, wurde zur Grundlage seiner Friedenslehre. Im Koran sagt Abel zu Kain: „Du kannst mich ermorden, aber ich werde nicht meine Hand gegen dich erheben“. Abels Weigerung, mit Vergeltung auf Gewalt zu reagieren, wird für Said zum wichtigsten koranischen Paradigma der Gewaltlosigkeit, deren Befolgung zu Gottes Geboten gehört. Diese Episode aus der Urzeit des Menschen wird für Said zu einer ungeschichtlichen Urgeschichte, die etwas über das Menschsein zu allen Zeiten ausdrückt. Darin sieht er das Ethos eines gewaltlosen Islam, der sogar das Recht auf Selbstverteidigung aufhebt. Sein erstes Buch: „Die Schule von Adams erstem Sohn: Das Problem der Gewalt in der islamischen Welt“, formuliert das Konzept der Gewaltlosigkeit in der modernen islamischen Philosophie, es wird 1965 zum ersten Mal veröffentlicht. Said hielt sich selbst daran und verweigerte den obligatorischen Militärdienst, deshalb wurde er sein Leben lang immer wieder inhaftiert.

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Im Gegensatz zu Sayyid Qutb, der Gewalt gegen Ungläubige und den Dschihad zum obersten islamischen Prinzip erwählte, behauptete Said, dass das Konzept des Dschihad „den Muslimen mehr Schaden zugefügt hat als jedes andere Fehlverhalten“, weil damit der Islam verzerrt und korrumpiert werde. Den Grund für die zunehmende Gewalt im Islam sah Said in einer Schwäche des Islams, weil es ein Beweis dafür ist, dass die „Muslime nicht mehr genug Vertrauen in die Religion haben, die sie vertreten“, denn „die Wahrheit und Göttlichkeit des Korans kann sich nur in einem freien und friedlichen Diskurs in einer freien und offenen Gesellschaft durchsetzen“. „Terror und Abschaum verschwinden wie Schaum, der weggeworfen wird, während das, was für das Wohl der Menschheit ist, auf der Erde bleibt“, schrieb er. Immer wieder verband er Gewaltlosigkeit mit der Aufforderung zu einer Modernisierung der islamischen Gesellschaft.

Neuausrichtung des Islam

Said verdiente seinen Lebensunterhalt als Arabischlehrer in Damaskus. Sein Heimatdorf im Golangebirge wurde 1967 von den Israelis besetzt, die Bewohner flohen, aber 1973 wurde sein Dorf wieder befreit, aber nicht durch die syrische Armee, die im Oktoberkrieg eine weitere Niederlage gegen Israel erlitten hatte, sondern durch israelisch-syrische Verhandlungen unter Vermittlung von US-Außenminister Kissinger. 1973 kehrte mit den Tscherkessen auch Said in sein Heimatdorf Bi‘r Ajam zurück, das bis jetzt an der Entflechtungslinie beider Staaten liegt. Said widmete sich jetzt, wie einst auch Gandhi, der Landwirtschaft und islamischer Philosophie. Nach dem Studium der Werke von Mohammed Arkoun und Michel Foucault formulierte auch Said eine Neuausrichtung des Islam in der heutigen Welt. Er forderte, dass „Gewaltlosigkeit aus dem Gefängnis des ,Undenkbaren‘ im islamischen Denken sich befreien muss“. Gewalttätige islamistische Extremisten verstoßen in der Sicht Saids auch gegen das höchste Gebot des Islam, den Eingottglauben, weil sie ihren Willen über Gottes Gebot stellen. In seinem 1988 erschienenen Buch „Iqra“ (Lies) wirft Said dem modernen Islam Wissenschaftsfeindlichkeit vor. Dies stehe jedoch im Widerspruch zur Botschaft des Korans, in dem der Wissenserwerb eine zentrale Rolle spielt.

Jawdat Said fand, weil er dieselbe Sprache benutzte wie Religionsgelehrte, sogar in islamistischen Kreisen Beachtung, sogar Teile der Muslimbruderschaft in Ägypten begannen in seiner Folge Gewaltlosigkeit zu predigen. Als in Syrien 1982 ein erster gewaltsamer Aufstand der Muslimbruderschaft scheiterte, sahen viele gläubige Muslime Saids Lehre bestätigt. Zu jener Zeit gewannen die Schriften Jawdat Saids in den Kreisen der islamischen Aktivisten und Aufklärer zunehmend an Popularität. Auch als 2011 der zweite große Aufstand in Syrien gegen den Assad-Clan ausbrach und diese Proteste zunächst friedlich blieben, rechneten dies viele Jawdat Said und seinen Lehren zu. Als die Gewalt jedoch auch auf der Seite der Aufständischen immer mehr die Überhand gewann, ging Said ins Exil in die Türkei. Kontakte mit der „Freien syrischen Armee“ lehnte er ab. Für Said, wie für Gandhi, waren die Bürgerkriege, die ihre Heimatländer am Ende ihres Lebens heimsuchten, auch eine persönliche Niederlage. Aber ihre Lehre wurde deswegen nicht widerlegt.

Gewaltlosigkeit als Gebot Gottes

In seinem Buch „Lies! Denn dein Herr ist der Allgütige“ von 1988 entwickelt Said einen wichtigen Ansatz für die Interpretation des Korans und untermauert damit sein Konzept für einen gewaltlosen Islam. Said blieb immer dem koranischen Text treu. Der Koran war die Grundlage, auf der er sein Konzept der Gewaltlosigkeit aufbaute. Doch während die heutigen muslimischen Theologen quasi zeitlos auf die religiösen Texte schauen, interpretierte Said sie auf dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte, historisch-kritisch.

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