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Barbey d'Aurevilly: Ein ganz großer Unbekannter

Den französischen Schriftsteller Barbey d'Aurevilly beschäftigte das Phänomen der Sünde.
Eine Frau hält ein Buch in den Händen
Foto: Uwe Anspach (dpa) | Das umfassende Werk von Jules Amédée Barbey d'Aurevilly ist in Deutschland weitgehend unbekannt.

Es gibt Autoren, die jeder Gebildete hierzulande dem Namen nach kennt und auf dieser Grundlage auch tatsächlich zu kennen glaubt, die aber kaum einer in der Tiefe gelesen hat. Diese Autoren sind dann mehr Mythos als Wirklichkeit, und dieser Mythos hat meist mit ihrer tatsächlichen Bedeutung wenig zu tun. Einer dieser Autoren ist der französische Schriftsteller, Essayist und Kritiker Jules Amédée Barbey d'Aurevilly (1808–1889). Die Diskrepanz zwischen Werk und Wirkung ist auch darauf zurückzuführen, dass nur ein Bruchteil von Barbeys immensem Oeuvre auf Deutsch vorliegt (obgleich der Matthes & Seitz Verlag seit Jahren an einer schönen Werkausgabe in Einzelbänden in Neuübersetzung arbeitet). Und dieser Bruchteil, den wir kennen, betrifft fast ausschließlich das Prosa-Werk, das heißt die sechs Romane sowie die Erzählungen. Von Barbeys essayistischen Arbeiten kennt man nur den Text über den Dandyismus und vielleicht noch denjenigen über Goethe und Diderot, was angesichts einer mehrtausendseitigen französischen Ausgabe des kritischen Werks verschwindend gering ist. Von den Briefen ganz zu schweigen, in erster Linie denjenigen an François-Guillaume-Stanislas Trébutien de la Place, seinem hochverehrten Verleger („pour moi, ce que Trébutien veut, Dieu le veut !“, so Barbey in seinem Tagebuch „Memoranda“), und an Léon Bloy, den Barbey, selbst ein Konvertit, zum katholischen Glauben führte.

Nur ein konservativer Dandy?

Etwas zugespitzt könnte man sagen: Barbey d'Aurevilly steht im allgemeinen Verständnis für eine Frühform literarischer Dekadenz mit katholischem Einschlag, während er tatsächlich wie kaum ein anderer französischer Poet das ganze 19. Jahrhundert in seiner Zerklüftung, in seinen Abgründen und Aufschwüngen, in seinen Widersprüchlichkeiten und in seinem unaufhörlichen Entwicklungsdrang, der in die Moderne mündete, aber stets die Erinnerung an das Frankreich der Heiligen und Könige bewahrte, verkörpert. Barbey war sicher nicht nur jener konservative Dandy, als den wir ihn uns gerne imaginieren, obgleich seine Biographie das zunächst nahelegt. Er entstammte einer alten, königstreuen und konter-revolutionären Familie aus der Normandie und ist der älteste von vier Brüdern, von denen der zweitälteste, Léon (1809–1876), nach einer journalistischen Karriere und nach langer Konversion 1838 zum Priester geweiht wird. Nach der Revolution lebt die Familie Barbey in ständiger Hoffnung auf eine Rückkehr der Monarchie, umgeben von alten Gegenständen und normannischen Bräuchen. Doch bald befreit sich der junge Barbey vom Eindruck der Chouannerie-Geschichten, die er von seiner Amme am Herdfeuer hört. In Paris und später in Caen, wo er Jura studiert, öffnet er sich der modernen Literatur und auch liberalerem Gedankengut. Die Begegnung mit dem Buchhändler Trébutien, der zu seinem ersten Verleger wird, und die Lektüre der Literatur der Romantik sind weitere wichtige Schritte auf seinem Lebensweg.

Zwischen 1835 und 1845 findet er zu jener Figur und Ausdrucksform des Dandys, die seinen Ruf so außerordentlich stark geprägt hat: Barbey trägt ausgesuchte Kleidung, perfektioniert seine Toilette, kultiviert einen ironischen Stil, umgibt sich mit der Aura des Geheimnisvollen, spricht höchstens in kryptischen Epigrammen und stürzt sich in lange Opium-Räusche. Dieser exzentrische Lebensstil öffnet ihm die Tore der Pariser Salons, in denen er um die Jahrhundertmitte einer der auffallendsten Persönlichkeiten ist, ohne freilich ein nennenswertes literarisches Werk vorweisen zu können.

Doch schon um 1840 beginnt sich ein anderer Ton in ihm zu regen. Erinnerungen an die katholische Jugend, an das alte Frankreich und seine Werte werden wach. Ausschlaggebend dafür waren der Tod seines Jugendfreundes Maurice de Guérin und die Begegnung mit der Baronin Amaury de Maistre, der (angeheirateten) Nichte des theokratischen Theoretikers Joseph de Maistre, dessen Werke Barbey nun intensiv studiert. Die Rückkehr zum Katholizismus befeuert seine Imagination: Er nimmt seinen liegengebliebenen ersten Roman, der 1851 als „Une vieille maîtresse“ erscheinen wird, wieder auf und arbeitet an einer Sammlung von Porträts konservativer Denker (de Maistre, Bonald, Chateaubriand, Lamennais), die im gleichen Jahr unter dem Titel „Les prophetes du passé“ erscheint.

Kunst und Katechismus - wie zusammenbringen?

Das gleichzeitige Erscheinen eines monarchistischen Essaybandes und eines überaus sinnlichen Romans verwirrt das zeitgenössische Publikum. Es versteht nicht, wie beide Werke zugleich der Feder eines Autors entfließen konnten. Aber gerade in diesem scheinbaren Widerspruch liegt ein Schlüssel zum Verständnis Barbeys: Offensichtlich versuchte Barbey, mit diesem Werk das Problem des katholischen Romans zu lösen, das darin besteht, dass die Idee des Kunstwerks sich nicht ohne weiteres mit der Normativität des Katechismus in Einklang bringen lässt, ohne an ästhetischem Wert einzubüßen. Barbey schreibt daher von nun an vornehmlich über das Phänomen der Sünde, um auf diesem Weg seinen literarischen Anspruch, der sich aus Quellen wie Byron, Hugo und Balzac speist, mit seinem Glauben zu versöhnen.

In seiner zweiten Lebenshälfte entfaltet Barbey eine intensive literarkritische Tätigkeit. Er trägt dazu bei, dass Stendhal entdeckt wird und er ist eine der wichtigsten Stimmen, der die Rehabilitation von Balzac, der am Ende seines Lebens in Vergessenheit zu geraten droht, zu verdanken ist. Barbey verteidigt aber auch moderne, seinerzeit skandalöse Autoren wie Baudelaire und Flaubert und ist für die jüngste Generation (Bourget, Daudet, Valles, Mirabeau und natürlich Huysmans und Léon Bloy) ein wichtiger Mentor. Seine Wohnung in der Rue Rousselet Nr. 25 wird zu einem Knotenpunkt des literarischen Lebens.

Im Dezember 1868 begegnet hier Léon Bloy, der auf der anderen Straßenseite wohnt, seinem geistigen Vater, wie er ihn später nennen sollte. Bloy, der zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger haltlos durch ein bohemienhaft anmutendes Leben gleitet und selbst weder an sein literarisches noch an sein katholisches Genie glaubt, wird von Barbey, der diesen Weg ja selbst durchschritten hat, zum katholischen Glauben zurück- und zum literarischen Selbstbewusstsein hingeführt. „La Méduse astruc“, Bloys erstes literarisches Werk, ist eine bildreiche Rhapsodie auf das literarische Monument, das Barbey für ihn darstellt. Barbey macht Bloy auch mit Autoren bekannt, die für Bloys Werk entscheidend werden sollen: neben der Bibel, den Kirchenvätern und Joseph de Maistre sind das vor allem Ernest Hello und Blanc de Saint-Bonnet. Bis zu seinem Lebensende bleibt Bloy an der Seite seines Meisters und verteidigt ihn gegen Anfechtungen in einer Zeit, in der der Stern Barbeys langsam, aber sicher hinter dem Horizont versinkt.

Sein Grab bekam verspätet ein katholisches Antlitz

Bezeichnend hierfür ist eine Episode nach dem Tod Barbeys am 2. April 1889, die Bloy zu Beginn seines ersten Tagebuchs kommentiert. Dieses Ereignis ist gleichsam der symbolhafte Einstieg in Bloys gigantische Diarium-Welt: Barbey wurde auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. Das Grab war anfangs ohne Kreuz, Bloy vermutete Machenschaften der Testamentsverwalterin Louise Read (1845–1928), einer glühenden Verehrerin Barbeys – Barbey nannte sie seinen „schwarzen Engel“. Read betreut ihn – in vielerlei Hinsicht – seit 1879, verfasste zahlreiche Artikel über sein Werk und gründete später das Musée Barbey d'Aurevilly in Saint-Sauveur-le-Vicomte. Immer wieder weist Bloy in seinem Tagebuch darauf hin, was er alles unternahm, damit das Grab des verehrten Meisters ein katholisches Antlitz bekam. Das ging so weit, dass er sich mit den Friedhofsangestellten über diesen Tatbestand zankte. Schließlich wird das Kreuz erreichtet, und Bloy registriert das mit Genugtuung. Er wusste um den in Wahrheit nicht so lupenreinen katholischen Lebenswandel Barbeys, aber eben auch um die wahre Verfasstheit seiner Seele. Barbey konnte sich der Gebete der Familie Bloy sicher sein. Und die haben ihre Wirkung getan.

Dieser Text ist Teil der Literatur-Serie "Poeten, Priester & Propheten"

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