Die Samen des heiligen Feigenbaums (Ficus religiosa), so heißt es zu Beginn des fast dreistündigen Filmes von Mohammed Rasoulof, fallen auf andere Bäume; die Äste des Ficus wickeln sich um den Wirt, und erwürgen ihn langsam. Mohammad Rasoulof versteht dies als eindrückliches Symbol für die gesellschaftlichen Strukturen in der Islamischen Republik Iran.
Der streng gläubige Jurist Iman (Missagh Zareh) wird zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran ernannt. Mit dem neuen Posten kommen nicht nur Privilegien wie eine größere Wohnung, sondern auch ein machtvolles Symbol: eine Pistole, die angeblich zum Selbstschutz dienen soll. Diese Waffe wird im Laufe der dramatischen Handlung zum bedrohlichen Sinnbild der allgegenwärtigen Gewalt, die das Land und auch Imans Familie durchdringt.
Er leidet zunehmend unter der moralischen Last seines Amtes
Während Iman zunehmend unter der moralischen Last seines Amtes leidet und Paranoia entwickelt, entfaltet sich innerhalb seiner Familie ein generationenübergreifender Konflikt. Seine Frau Najmeh (Soheila Golestani) versucht, zwischen Loyalität zu ihrem Mann und der Fürsorge für ihre Töchter zu vermitteln. Die beiden jungen Frauen, Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki), wachsen in einer digital vernetzten Welt auf und sind zunehmend von den Protesten und der revolutionären Stimmung ergriffen. Ihre Sympathie für die Forderungen der Jina-Bewegung, die für „Frau, Leben, Freiheit“ eintritt, bringt sie in direkten Widerspruch zu den patriarchalen Strukturen, die ihr Vater unbewusst repräsentiert.
Eine zentrale Szene verdeutlicht diesen Konflikt: Beim angespannten Abendessen verteidigt Iman seine regimetreue Sichtweise mit den Worten: „Glaubt ihr nicht, dass ich es besser weiß?“ Rezvan antwortet mit bemerkenswertem Mut: „Nein, du weißt es nicht besser, weil du die Dinge von innen siehst.“ Dieser Dialog offenbart nicht nur die Risse in der Familie, sondern symbolisiert auch die Spaltung einer Nation.
Rasoulof fängt die Dynamiken dieser zerrissenen Familie mit dokumentarisch anmutender Authentizität ein. Subtile Gesten, Blicke und angespannten Dialoge lassen den inneren Druck der Figuren greifbar werden. Der Regisseur kontrastiert diese „private“ Perspektive meisterhaft mit der „politischen“ Lage im Land. Das menschenverachtende Regime wird besonders deutlich entlarvt durch die erschütternde Nebenhandlung, als eine Freundin der Mädchen in eine Demonstration gerät, brutal zusammengeschlagen und schwer im Gesicht verletzt wird. Die dokumentarischen Bilder in den sozialen Netzwerken und die zahlreichen Verhaftungen und Gefangenen im Hintergrund verstärken die beklemmende Atmosphäre.
Gedreht unter größter Gefahr im Geheimen
Im letzten Drittel entwickelt sich der Film zu einem Paranoia-Thriller. Die Familie flieht in eine verfallene Ortschaft, einen labyrinthischen Ort voller düsterer Symbolik für die Zerstörung der Gesellschaft. Der folgenschwere Verlust der Pistole – und die damit verbundene wachsende Angst – verstärkt Imans krankhaftes Misstrauen, das schließlich zu einem explosiven und unvermeidlichen Showdown führt. Hier zeigt sich in erschreckender Deutlichkeit, wie sehr das staatlich geschürte Misstrauen selbst die engsten menschlichen Beziehungen zersetzt.
„Die Saat des heiligen Feigenbaums" wurde unter größter Gefahr im Geheimen während der Proteste im Jahr 2022 gedreht. Rasoulof musste vor der prestigeträchtigen Premiere in Cannes aus dem Iran fliehen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Die permanente Gefahr für ihn und sein mutiges Team ist in jeder Sekunde dieses außergewöhnlichen Films spürbar.
Trotz der düsteren Thematik ist der Film nicht ohne Hoffnung. In seinen finalen Momenten blendet Rasoulof auf Handyvideos, die Frauen zeigen, die ihre Kopftücher verbrennen und mit Siegeszeichen den Widerstand symbolisieren. Dieses Bild einer möglichen Befreiung bleibt nachdrücklich im Gedächtnis.
Psychologische Tiefe, brisante politische Aktualität
Mit seinem neuen Film gelingt Rasoulof ein intensives Familiendrama, das durch seine psychologische Tiefe, seine brisante politische Aktualität und seine ästhetische Brillanz besticht. Der Film zeigt die verheerenden Auswirkungen autokratischer Systeme auf die Familie und das Individuum, aber auch den ungebrochenen Mut einer jungen Generation, die sich gegen Unterdrückung auflehnt.
Rasoulofs Film wurde hauptsächlich in Deutschland produziert, und wird von Deutschland für den „Internationalen Oscar“ vorgeschlagen. Er feierte im Sommer in Cannes Premiere und wurde bei den Filmfestspielen mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 2020 erhielt der Regisseur den Goldenen Bären der Berlinale für den Film „Doch das Böse gibt es nicht“.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.