Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Neuer Film von Ari Aster

Als ob Freud und Jung gemeinsam ein Drehbuch verfasst haben

„Beau is Afraid“ mit Joaquin Phoenix ist ein ödipaler Kino-Bilderrausch der Extraklasse.
Joaquin Phoenix, "Beau is afraid"
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Oscargewinner Joaquin Phoenix („Joker“) verkörpert in „Beau is Afraid“ unnachahmlich gut einen von allen erdenklichen Phobien geplagten Protagonisten.

Vorhang auf für den wohl ungewöhnlichsten Film des Jahres: „Beau is Afraid“ ist der neue Kinofilm von US-Regisseur Ari Aster, der seine Karriere als Filmemacher und Drehbuchautor mit Kurzfilmen begann und mit seinen beiden Erstlingswerken „Hereditary“ (2018) und „Midsommar“ (2019) das Horror- und Schocker-Genre vor fünf Jahren beinahe neu erfand. 

Aster wird von Filmkritikern gerne in einem Atemzug mit anderen innovativen Hollywood-Newcomern wie Robert Eggers und Jordan Peele genannt und gefeiert – jetzt hat er mit 36 Jahren seinen dritten Langspielfilm in die Kinos gebracht und dieser ist mit 180 Minuten auch tatsächlich episch lang geworden. Dabei ist er nicht nur mit 30 Millionen Produktionskosten der bisher teuerste Film der Indie-Produktionsfirma A24, sondern wahrscheinlich jetzt schon inhaltlich gesehen der absurdeste Film des Jahres und von seinem Filmtitel her wohl die größte filmische Untertreibung der letzten Kinojahre. 

Ödipus und Hiob lassen grüßen

Denn dieser Film, der auf Ari Asters erstem Kurzfilm „Beau“ (2011) beruht, ist ein ödipaler Bilderrausch der Extraklasse mit einer Übermutter als Wolf im Schafspelz - ein verstörender Film, der nicht nur bei Sigmund-Freud- und C.-G.-Jung-Anhängern sowie Freunden der Psychoanalyse und des Expressionismus nach der Kinosichtung Redebedarf auslösen dürfte. 

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Worum geht es in diesem experimentellen Film? Der von Joaquin Phoenix gespielte Titel-„Held“ Beau lebt allein in einem Apartment – in einer für ihn sehr beängstigenden Welt voller Gefahren und gefährlicher Menschen; in einer Welt, in der, von seiner Geburt an, an jeder Ecke das Böse auf ihn lauert und von welcher der Zuschauer nicht weiß, ob sie real ist oder sich nur aus seinen massiven Ängsten her speist. So oder so lebt Beau vermeintlich in einer Welt, die es auf jeden Fall auf ihn abgesehen hat. 

Denn für ihn ist diese Welt beängstigend real: Im Minutentakt stoßen ihm ausnahmslos Dinge zu, die wohl jeden anderen Menschen auch vor Schreck erstarren lassen würden. Er wird ständig von einer aberwitzigen, beziehungsweise gruseligen Situation in die nächste katapultiert und bevor er weiß, wie ihm geschieht, überrollt ihn auch schon die nächste Lawine aus unvorhersehbaren Katastrophen. Nichts ist sicher! Beau scheint, wie die alttestamentliche Figur des Hiob, der Spielball eines grausamen Gottes oder eines brutalen Schicksals zu sein, dass es nie gut mit ihm meint. 

Natürlich ist die Mutter schuld

Mit regelmäßigen Besuchen beim Therapeuten und einem Vorrat an Tabletten versucht er seine multiplen Ängste und Schuldgefühle in Schach zu halten, bis sich eine Reise zu seiner neurotischen Helikoptermutter zu einer bizarren Verfolgungswahn-Odyssee entwickelt und alles von seiner fragilen Psyche abverlangt. Auf dem Weg in die Heimat scheint Beau dabei auch eine Reise zu sich selbst zu machen: Sie bleibt nicht ohne äußere Verletzungen und körperliche Blessuren, doch die sind gar nichts im Vergleich zu seinem ramponierten Innenleben. Auch wenn alles um ihn herum sich verändert, eines bleibt immer gleich: Beau hat Todesangst!

Oscargewinner Joaquin Phoenix („Joker“) verkörpert in „Beau is Afraid“, ähnlich wie schon in Paul Thomas Andersons „Inherent Vice“ (2014), unnachahmlich gut einen von allen erdenklichen Phobien geplagten Protagonisten, der eigentlich nur zu seiner Mutter reisen will, aber dabei die Welt vor der Haustür in einer Art und Weise wahrnimmt, als würde auf den Straßen ein postapokalyptischer Bürgerkrieg toben, bei dem unter anderem ein nackter Serienkiller wahllos Menschen absticht und der Gang zum Supermarkt zum Überlebenskampf wird. Überall regiert vermeintlich die Gewalt.

Der beklemmende Film ist ein dreistündiger Psycho(sen)-Trip voller absurd-skurriler Geschehnisse und Figuren, in dem Traum, Erinnerungen, Traumata und Realität nicht voneinander zu unterscheiden sind, sowie ein tiefer und verstörender Einblick in eine kranke und von tiefsitzenden Ängsten geplagte Seele. An einer Stelle im Film erklärt Beaus Mutter diesem, dass sein Vater bei seiner Zeugung gestorben ist - sowie auch sein Großvater bei der Zeugung seines Vaters. Von daher wundert es nicht, dass Beau Bindungsschwierigkeiten hat und unfähig ist, menschliche Nähe zuzulassen, weshalb er in seinem mittleren Alter auch immer noch Jungfrau ist - denn der Geschlechtsakt könnte für ihn, ebenso wie es bei seinen männlichen Vorfahren der Fall war, tödlich enden. Leider kann er als Muttersöhnchen mit schlechtem Gewissen die perfiden Manipulationstechniken seiner Mutter nicht durchschauen und glaubt ihr jedes Wort, bis ihm im Verlauf seiner Reise plötzlich Zweifel aufkommen und er daraufhin versucht, sich von den ständigen Schuldgefühlen, die ihm seine Mutter seit seiner Geburt immer eingetrichtert hat, abzunabeln und erwachsen zu werden. 

Eine tiefenpsychologische Höllenfahrt

Der Film ist ein erbarmungslos-unablässiger surrealer Albtraum, eine atemlose und inhumane Tour de Force eines Menschen, der eigentlich im Grunde sympathisch ist, aber unter dauernden Panikattacken leidet und den Zuschauer ständig mitleiden lässt. Ein radikal visionäres Paranoia-Epos über eine persönliche Höllenfahrt mit einem sehr überzeugenden Hauptdarsteller, der ganz hinter seinem trostlosen Opfer-Charakter verschwindet. 
Ari Asters Film lässt sich keinem Genre so richtig zuordnen. Er ist Roadmovie, Komödie, Beziehungsdrama, Coming-of-Age Geschichte, Horror und Verschwörungs-Thriller in einem. Zugleich wirkt er aber auch wie ein äußerst fieser Witz mit lang vorbereiteter Pointe. „Beau is afraid“ ist definitiv ein Film, dessen Länge von drei Stunden einen körperlich, seelisch und psychisch regelrecht auslaugt, auf die Geduldsprobe stellt und von daher die Gemüter spalten wird. Doch es ist auch ein sehenswerter Film, der nachhaltig in Erinnerung bleibt, durch eine beindruckende Inszenierung und Bilder, wie sie im Kino so noch nie zu sehen gewesen sind. Denn: Schließlich sehen wir die Dinge oft nicht so wie diese sind, sondern wir sehen diese so, wie wir sind.   

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Norbert Fink Joaquín Phoenix

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