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Dem Leben einen Sinn verleihen

Der Spielfilm „Living – Einmal wirklich leben“ erzählt vom Streben, am Ende das Leben zu genießen, aber auch etwas Sinnstiftendes zu tun.
Filmszene aus "Living"
Foto: Sony | Jahrzehntelang bestand das Leben des Bürokraten Mr. Williams (Bill Nighy) aus der immer gleichen Routine in der Baubehörde.

Im Jahre 1952 erzählte der japanische Regiemeister Akira Kurosawa in „Ikiru“ die Geschichte eines todkranken Bürokraten, der im Chaos der japanischen Nachkriegszeit seine letzten Tage verbringt, und „einmal wirklich leben“ wollte.

Nun hat der in Japan geborene, in England aufgewachsene Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro, dessen erste Romane „Damals in Nagasaki“ (1982) und „Der Maler der fließenden Welt“ (1986) in Japan, ab „Was vom Tage übrigblieb“ (1989) aber in England angesiedelt sind, das Drehbuch aus Kurosawas Film für den Spielfilm „Living – Einmal richtig leben“ adaptiert. Regie führt Oliver Hermanus.

Ishiguros Drehbuch siedelt den britischen Film ebenso in den 1950er Jahren, allerdings in London, an. Die Filmemacher gehen sogar noch einen Schritt weiter: Sie wählen das alte 4:3-Bildformat und passen die Farbpalette den Farbtönen aus den 1950er Jahren an. Ähnlich verhält es sich mit dem Schnitt, der heutigen Sehgewohnheiten mit deren hohen Schnittfrequenz zuwiderläuft. Dementsprechend werden alte Archivaufnahmen aus London für die Eingangssequenz verwendet, die dann überzeugend in die erste Spielszene übergehen.

Eintauchen in die Welt der Behörden

Auch für die Einführung der Hauptfigur nehmen sich Ishiguro und Hermanus Zeit. Denn die Kamera folgt zunächst einmal dem jungen Peter Wakeling (Alex Sharp), der in einem Londoner Vorort am Bahnhof zu einigen Kollegen stößt. Es ist sein erster Arbeitstag in der Beschwerden-Stelle der Baubehörde Londons. Eine Station später steigt Mr. Williams (Bill Nighy) in den Zug ein – aber Mr. Williams setzt sich nicht zu seinen Untergebenen. Sie dürfen sich offenbar an der Endstation auch nicht zu ihm gesellen, sondern folgen dem Chef in gebührendem Abstand.

Damit und durch die geschickte Ausstattung des Arbeitsplatzes sowie durch die hervorragende Arbeit von Kameramann Jamie Ramsay – unterstützt von den Geräuschen der alten Schreibmaschinen und Telefone, und als i-Tüpfelchen vom Rauch der Zigaretten – taucht der Zuschauer regelrecht in die Welt der Behörde ein. Wir lernen: Je höher der Aktenstapel, der sich auf dem jeweiligen Schreibtisch türmt, desto gewichtiger die Stellung. 

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Eine routinemäßige Arbeit, die offenbar darin besteht, Akten von einem Stapel auf einen anderen oder gar in eine Schublade zu schieben, unterbrochen etwa durch den Besuch einiger Damen, die einen Kinderspielplatz bauen möchten, von der Behörde aber von der einen zur nächsten Stelle geschickt werden. Peter Wakeling begleitet sie durch das Bürokratielabyrinth, um sich am Ende am Ausgangspunkt wiederzufinden.

Eines Tages verkündet Mr. Williams, er müsse früher weg, was seine Kollegen ziemlich verblüfft. Was sie nicht wissen: Er geht zum Arzt, der ihm eine tödliche Diagnose erklärt. Mr. Williams bleibt nicht mehr lange Zeit. 

Nachdem er sich einem Fremden anvertraut hatte, begegnet Mr. Williams zufällig der jungen Margaret Harris (Aimee Lou Wood), die kürzlich wegen eines Jobwechsels sein Team verlassen hatte. In ihr findet der bis dahin so verschlossene Mr. Williams eine Gesprächspartnerin, mit der er im Restaurant, im Kino oder einfach beim Spazieren wunderbare Stunden verbringt. 

Kleine Dinge zur Verbesserung der Welt

Natürlich ist Margaret erstaunt, dass ihr damaliger Chef auf einmal solches Mitteilungsbedürfnis verspürt. Aimee Lou Wood stellt dieses Gefühl glaubwürdig dar, genauso wie Bill Nighy die Gratwanderung zwischen vornehmer Zurückhaltung und dem Bedürfnis nach Gesellschaft überzeugend gestaltet.

Wäre Mr. Williams Streben in den ihm verbleibenden letzten Monate lediglich darauf ausgerichtet, all das zu genießen, was er sich jahrzehntelang versagt hatte, dann wäre „Living – Einmal wirklich leben“ etwas seicht gewesen. Der trockene Bürokrat hat nicht nur schöne Seiten des Lebens entdeckt – er möchte darüber hinaus etwas Sinnvolles hinterlassen, wenigstens eines der Projekte, die im Dickicht der Bürokratie seiner Beschwerdestelle stecken geblieben war, doch noch zu Ende zu führen.

Auch wenn das ausgewählte Projekt nichts Weltbewegendes an sich hat, so ist es ein Beitrag, etwas Hoffnung in die Welt zu bringen. Damit verdeutlicht „Living – Einmal wirklich leben“, dass vermeintlich kleine Dinge zur Verbesserung der Welt beitragen können, dass andererseits auch ein graues, routiniertes Leben an dessen Ende etwas Sinnvolles schaffen kann, und damit auch dass dieses Leben einen Sinn hat. Und auch ein Vorbild für andere sein kann, wie die Schlussszene suggeriert.


„Living – Einmal wirklich leben“ erhielt bei den Oscars 2023 zwei Nominierungen: für Bill Nighy als Bester Hauptdarsteller sowie für das Beste adaptiertes Drehbuch.

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José García

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