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Wolfgang Beckers letzter Film: Die Wahrheit hinter „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“

Drehbuchautor Constantin Lieb über Romanadaption, DDR-Kontext, Wolfgang Becker und die aktuelle Bedeutung des Films für Medienkritik und Erinnerungspolitik.
Redakteur Alexander Landmann (Leon Ullrich, links) wittert eine große Geschichte über die angeblichen Heldentaten von Micha Hartung (Charly Hübner), der einst zahlreiche Menschen aus der DDR in die Freiheit geschleust haben soll. Doch Micha zeigt sich davon zunächst alles andere als begeistert.
Foto: Filmverleih / Frédéric Batier | Redakteur Alexander Landmann (Leon Ullrich, links) wittert eine große Geschichte über die angeblichen Heldentaten von Micha Hartung (Charly Hübner), der einst zahlreiche Menschen aus der DDR in die Freiheit ...

Am 23. Juni 1984 führte eine falsch gestellte Weiche in Berlin dazu, dass 127 DDR-Bürger in den Westen gelangten. 35 Jahre später besucht der Redakteur Alexander Landmann (Leon Ullrich) Micha Hartung (Charly Hübner), den damaligen stellvertretenden Stellwerkmeister am Bahnhof Friedrichstraße, um über seine Rolle als Fluchthelfer zu berichten. Micha, nun Betreiber einer Videothek, weicht zunächst aus. 

 Als aber Landmann eine sensationelle Titelstory darüber veröffentlicht, gerät Michas Leben aus den Fugen. In einer Talkshow gesteht er, nicht politisch motiviert, sondern aus Liebe zu einer Tänzerin gehandelt zu haben. Die charmante Staatsanwältin Paula Kurz (Christiane Paul) erkennt, dass Micha ihren Weg in die Freiheit ebnete.  „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist Wolfgang Beckers letzter Film, der kurz nach Drehschluss verstarb. Der auf Maxim Leos Roman basierende Film über Geschichte und Geschichten, über Erinnerungskultur, Wahrhaftigkeit und die Macht der Medien schließt den Kreis, den Becker mit „Good Bye, Lenin!“ eröffnete. Mit feinem Humor lässt er erneut Realität und Fiktion ineinanderfließen. 

Herr Lieb: Wie wird ein fiktiver Roman adaptiert, dessen Geschichte nicht passiert ist, aber hätte passieren können? 

Es geht nicht darum, den Roman zu illustrieren – man schafft ein anderes Werk. Maxim Leos Buch ist ein wunderbarer Text über Geschichte als Mythos, eine berührende und zugleich unterhaltsam-politische Geschichte darüber, wie wir in Deutschland unsere Vergangenheit erinnern. Unsere Aufgabe war, der Grundidee, den Figuren und der „Seele“ des Romans treu zu bleiben – und gleichzeitig einen eigenständigen Film zu entwickeln. 

 Was unterscheidet denn Roman und Film konkret? 

Der Roman arbeitet zum Teil elliptisch, einiges wird im Rückblick erzählt oder elegant ausgelassen. Für das Kino mussten wir eine neue Form der Dramaturgie finden, Konflikte und Emotionen zuspitzen und unmittelbarer zeigen. Dabei haben wir auch einige Figuren anders charakterisiert und ein neues Ende gesucht, das noch einmal auf unser Meta-Thema einzahlt: die Tragikomödie des Geschichtenerzählers. Es ist dadurch auch ein Film über das Erzählen und das Kino selbst geworden. Manchmal steckt in der Fiktion eben ein bisschen mehr Wahrheit als in der Wirklichkeit selbst. Wir folgen den Figuren und Themen des Romans, aber denken sie für die Leinwand weiter. 

Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Regisseur Wolfgang Becker? 

Wolfgang hat mich vor einigen Jahren eingeladen, „in seine Welt zu kommen“. Schon beim ersten Treffen war klar: Wir ticken ähnlich und wollen unbedingt zusammenarbeiten. Er war von Anfang an offen, auch was seine Krankheit anging. Daraus entstand eine sehr intensive, bald auch freundschaftliche Zusammenarbeit, über die ich sehr glücklich bin. Wir haben unendlich viel geredet: über Figuren, Ton, Humor, Musik, über die Frage, wie man Tragik und Komik verbindet. Ich habe erste Drehbuchfassungen geschrieben, ihm geschickt, er hat kommentiert, widersprochen, ergänzt. 

Hat seine Persönlichkeit Spuren im Drehbuch hinterlassen? 

Absolut. Wolfgang war ein leidenschaftlicher Musik-, Kunst- und Filmliebhaber. Unsere eigentlich vierstündigen Arbeitssitzungen wurden regelmäßig zu zehnstündigen Abenden, in denen er über die Beatles, die Stones, Mahler, Schostakowitsch oder die Gitarrentechnik der 70er philosophierte. Ein Detail aus seinem Leben, seine Sammelleidenschaft für Komposita-Figuren, habe ich von ihm übernommen und in das Drehbuch eingebaut – als Symbol für eine gelingende Wiedervereinigung und die charmante Liebesgeschichte: zwei Teile, die gemeinsam zu etwas Größerem werden. 

Wie haben Sie die Dreharbeiten und die Zeit nach seinem Tod erlebt? 

Wolfgang hat den Film noch selbst inszeniert. Ein alter Weggefährte und Freund, Achim von Borries, war früh an Bord, für den Fall, dass Wolfgang mal ausfallen sollte. Er musste nur einige Male am Set unterstützen. Am Abschlussfest hat Wolfgang dann noch mit uns gefeiert und sich auf den Schnitt gefreut. Er war sehr positiv gestimmt und glücklich. Dass er dann kurz darauf verstorben ist, war für uns alle natürlich ein Schock. Allerdings hatte er vieles vorbereitet: Editor, Komponist, Besetzung. Achim hat dann zusammen mit dem Editor Jörg Hauschild die Postproduktion verantwortet, ich habe den Prozess immer wieder ein wenig begleitet. Das gesamte Team hat diesen Film „für Wolfgang“ fertiggestellt. Es war ein wunderbarer Schlusspunkt für sein Leben und Werk. 

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Im Film tauchen viele vertraute Gesichter aus Beckers früheren Arbeiten auf. Wirkt das für Sie wie eine Art Abschiedstour? 

Geplant war es nicht als „jeder muss noch einmal vorkommen“. Wolfgang hat immer aus Überzeugung besetzt, nie aus Nostalgie. Aber es stimmt: Seine Filme waren oft auch Ensemblefilme, denken Sie an „Das Leben ist eine Baustelle“ oder „Good Bye, Lenin!“. Er liebte es, Welten zu erzählen, Freundeskreise, Wirklichkeit als ein Geflecht vieler Perspektiven. Diese Großzügigkeit, dieses Lustvolle im Erzählen, spürt man auch hier. 

Inhaltlich knüpft der Film stark an Themen an, die Wolfgang Becker immer beschäftigt haben: DDR, Wiedervereinigung, Erinnerung … 

Ja, es geht sehr deutlich um die Frage: Was haben wir aus der Wiedervereinigung gemacht? Der Film kritisiert das westdeutsche Bedürfnis nach einfachen Geschichten und die unterkomplexe Darstellung der DDR – der Westen als Modell, der Osten als „neue Bundesländer“. Wolfgang und ich haben oft darüber gesprochen, wie unzureichend das ist. Die DDR war natürlich nicht nur grau und miefig. Biografien der Menschen sind vielschichtig. Der Film versucht, diese Ambivalenz sichtbar zu machen. 

Gleichzeitig ist es eine Geschichte über Medien, Hochstapelei und „gefühlte Wahrheiten“, oder? 

Unbedingt. Wir leben in einer Medienkrise, in der die Emotionalität der Fakten oft wichtiger genommen wird als die Fakten selbst. Im Film ist das zunächst komisch: Ein Mann wird durch eine gute Geschichte zum Helden hochgeschrieben. Aber dahinter steckt eine sehr aktuelle Tragödie, die wir in der realen Politik und Gesellschaft überall sehen. 

Wie ist das Verhältnis Fiktion-Geschichte in Roman und Film? 

Maxim Leo hat sehr gründlich recherchiert: Gleise, Weiche, S-Bahnen zwischen West- und Ost-Berlin – alles ist historisch plausibel. Die konkrete Geschichte ist erfunden, aber sie besitzt Wahrhaftigkeit. Der Film markiert klar, dass er Fiktion ist, lädt aber dazu ein, nachzufragen: Stimmt das so? Wie war das wirklich? Wenn Zuschauer hinterher googeln, sich mit der Geschichte und den Geschichten über Geschichte beschäftigen, dann hat der Film genau das erreicht, was wir wollten. Kino als Diskussionsanreger. 

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José García Wladimir I. Lenin

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