Das übliche Bild von Franz Kafka ist das eines düster dreinblickenden, irgendwie deprimierten Autors. Die gängige Auffassung seines Werks sieht darin vor allem das Schicksal von Menschen, die zum Opfer anonymer Mächte werden, die sie nicht verstehen. Gegen derartige Klischees wendet sich der Kafka-Kenner Roland Reuß im „Tagespost“-Interview.
Nicht nur Opfer, sondern auch Täter
Reuß, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg und Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Kafkas Werken, warnt etwa davor, K. – den Protagonisten des Romans „Der Process“ – „einfach nur als den armen, verfolgten Kerl“ zu verstehen. Vielmehr ist dieser selbst, wie Reuß am Text ausweist, „ein funktionierendes Rädchen“ in einem unterdrückerischen System.
Ein zentrales Thema von Kafkas Werken sei der Zusammenhang von Sprache und Macht: „Wenn wir über diese Texte nachdenken, geht es ganz wesentlich darum, wie mit Hilfe von Sprache Wirklichkeiten geschaffen werden und dass Sprache auch ein Machtinstrument ist.“
Zurück zu den Quellen
Eine weitere Besonderheit von Kafkas Werk, von dem zu Lebzeiten nur weniges veröffentlicht wurde, ist nach Reuß, dass die Manuskripte sich einer eindeutigen Zuordnung zu literarischen Gattungen entziehen: „Beispielsweise haben wir“, so Reuß, „die Eingangspassagen zu dem, was dann der ‚Verschollene‘ heißen wird, in einem Quartheft, in dem auch noch 1000 andere Sachen drinstehen: Notizen über Vorträge, die er besucht hat, Erzählansätze, aber auch einfach Listen, was er noch kaufen will und so weiter.“
Die Arbeit mit der historisch-kritischen Ausgabe, die die Originalmanuskripte Kafkas als Faksimile sowie deren Transkription abdruckt, ist für Reuß kein Muss, sondern ein Angebot an alle, die es genauer wissen wollen: „Um wirklich genau zu verstehen, was jemand geschrieben hat, muss ich auf die Quelle zurückgehen, und zwar nicht nur bei Kafka, sondern bei jedem Autor.“ DT/sost
Mehr über Franz Kafkas Werk, die Rolle seiner Biografie zum Verständnis seiner Texte und die Besonderheiten der historisch-kritischen Edition erfahren Sie in der kommenden Ausgabe der „Tagespost“, die am 3. Mai 2024 erscheint.