Der öffentlich-rechtliche Rundfunk befindet sich in einem eigentümlichen Zwischenraum: gut finanziert, institutionell gesichert, aber geistig ausgedünnt. Die Diagnose lautet seit Jahren ähnlich – zu viel Zerstreuung, zu wenig Weltdeutung. Die Verlagerung des Programms hin zu Formaten, die primär Unterhaltung generieren, offenbart einen schleichenden Verlust an intellektueller Selbstachtung. Was Alexander Kissler einst ein Fernsehen „in weiten Teilen der Verblödung preisgegeben“ nannte, erscheint heute als Symptom einer Medienlandschaft, die ihre kulturelle Verantwortung zugunsten des algorithmischen Gefallens delegiert hat. Gerade jene Zuschauer, die Orientierung statt Eskapismus suchen, werden mit ästhetisch brillanten, aber geistig harmlosen Naturpanoramen vertröstet. Man zeigt die Welt in HD, aber erklärt sie nicht mehr.
„Der journalistische Auftrag, der einst ein Schutzraum der Urteilskraft war, verschmilzt mit der Erziehungsidee der Gegenwart.“
Doch die eigentliche Krise verläuft tiefer: Nachrichten verlieren zusehends das Moment des Widerstands. Sie spiegeln die gängigen Diskurse, statt sie zu brechen. Analyse wird durch Affirmation ersetzt, Komplexität durch moralische Schlichtheit. Der journalistische Auftrag, der einst ein Schutzraum der Urteilskraft war, verschmilzt mit der Erziehungsidee der Gegenwart. Die Parallele zum „Schwarzen Kanal“ mag überzogen erscheinen, doch sie verweist auf ein strukturelles Muster: Auch heute entsteht eine mediale Homogenität, die der Vielfalt einer offenen Gesellschaft nicht entspricht. Wer abweichende Positionen nicht abbildet, sondern ausblendet, erzieht sich sein Publikum – mit dem paradoxen Effekt, dass Bürger sich anderen, weniger seriösen Informationsquellen zuwenden. Die Ränder erstarken nicht trotz, sondern wegen enger Meinungskorridore.
Die EU bleibt Randnotiz
Nirgendwo ist die Blindstelle deutlicher als in der europäischen Dimension. Europa ist längst nicht mehr Verwaltungseinheit, sondern politischer Resonanzraum, in dem Fragen der Souveränität, Energie, Migration, Digitalisierung und Sicherheit neu verhandelt werden. Doch in der „Tagesschau“ bleibt die EU Randnotiz: Gipfelbilder, institutionelle Abläufe, ein kurzer Verweis auf Kommissionsentscheidungen. Die politischen Auseinandersetzungen in den Fraktionen des Europäischen Parlaments – EVP, S&D, Renew, Grüne, EKR – erscheinen kaum, obwohl sie das zukünftige Gefüge Europas prägen. Europa verlangt Erzähldichte, nicht Schlagzeilenverkürzung.
Deshalb ist es an der Zeit, die „Tagesschau“ zu verlängern. Zehn zusätzliche Minuten würden ermöglichen, was demokratische Öffentlichkeit braucht: argumentative Tiefe, Darstellung der Kontroversen, Sichtbarkeit der europäischen Machtzentren. Eine Nachrichtensendung, die sich nicht dem Tempo des Marktes beugt, sondern der Vernunft verpflichtet bleibt, wäre ein Beitrag zur Wiedergewinnung des Vertrauens in die vierte Gewalt. Die Zukunft der Information entscheidet sich daran, ob wir bereit sind, Komplexität wieder auszuhalten. Eine erweiterte „Tagesschau“, die Europa als politisches Labor der Moderne ernst nimmt, würde nicht nur Wissen vermitteln, sondern Mündigkeit ermöglichen. Denn Freiheit entsteht nicht durch Meinung, sondern durch informierte Urteilskraft – und genau sie ist das Fundament jeder europäischen Demokratie.
Der Autor schreibt als Philosoph und Theologe zu Kunst, Kultur und Medien.
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