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Abschied vom Jammertal

Klagen will gelernt sein: Die Unkultur des Dauerjammerns muss ein Ende finden, meint Ute Cohen.
Schmollendes Kind
Foto: imago stock&people | Vor allem in Deutschland scheint die Fähigkeit zum Jammern und Nörgeln bereits mit der Muttermilch aufgesogen zu werden.

Bittere Zähren weinte sie auf TikTok und musste dafür Häme und Unverständnis einkassieren. Ende letzten Herbstes beklagte sich die junge amerikanische Influencerin Sami Brielle über den harten Arbeitsalltag: Erschöpft sei sie, ausgelaugt, an Freizeit sei nicht zu denken bei einem 9-to-5-Job. In den Kommentarspalten zogen die einen gegenüber der jungen Frau vom Leder, die anderen bedauerten sie und weinten selbst ins virtuelle Tränenmeer.

Belächeln sollte man das Phänomen nicht. Wer ein Herz hat, sollte sich von Tränen nicht unbedingt erweichen, wohl aber rühren lassen. Wer Verstand hat, weiß, dass sich mit einer Generation Z (geboren im Zeitraum 1997 bis 2012), die abends in die Tasten weint, kein Blumentopf gewinnen lässt. Das Tal der Jammerer muss daher erst einmal erkundet werden, bevor eine Lösung gefunden werden kann.

Die Generation Z weint nachts in die Tasten

Dazu kann ein Blick in die Historie nicht schaden. Neu ist die Erscheinung des jugendlichen Jammerns nicht. Bereits die Vorgänger der Generation Z, die sogenannten Millenials, geboren im Zeitraum Anfang der Achtziger bis späten Neunziger, beklagte sich über die erschwerten Bedingungen, zu Wohlstand zu gelangen.  Im sogenannten Millenial-Manifest glaubte sich eine junge österreichische Autorin bereits 2018 in der Arbeitshölle gefangen und versuchte, den kapitalistisch-neoliberalen Produktionsbedingungen den Garaus zu machen. Dabei versank sie jedoch immer tiefer im Klagesumpf und ließ Neid und Lästerei die Oberhand gewinnen. Eine Exit-Strategie aus der Fin-de-Siècle-Stimmung zu Beginn des Jahrtausends wusste sie nicht aufzuzeigen. Zwar hatte auch die Vorgängergeneration keinen Königsweg aus der gefühlten Misere gefunden, doch äußerte sich die Schwierigkeit, das Schicksal zu meistern, nicht in Larmoyanz: Die Generation X besaß noch eine Raw Power, eine ungeschliffene Kraft, um den Widernissen zu trotzen. Daran anzuknüpfen, wäre nicht nur eine hilfreiche Strategie für die TikTok-Traurigen, sondern auch gesamtgesellschaftlich von Vorteil: Weniger Tränen, mehr Kraft für reale gesellschaftliche Verbesserungen!

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Die Entjammerung müsste mit einer Rückbesinnung auf Zeiten beginnen, in denen die ganz normale gelegentliche Erschöpfung nicht durch postkoloniales Opferdenken verstärkt wurde. Vor dem Siegeszug des woken Denkens herrschte ein ausgeprägter Glaube an die individuelle Kraft und ein gepflegtes Miteinander. Auf diese Weise wurde Erschöpfung als etwas Vorübergehendes betrachtet, dem neue Schwungkraft nachfolgen würde.

Zeit für eine Entjammerung

Dass derzeit ein günstiger Zeitpunkt wäre für Entjammerung, zeigt sich daran, dass die Jammerligisten inzwischen nahezu alle Bereiche erobert haben und kurioseste Dinge beklagen, um noch Gehör zu finden: Die Rapperin Lady Bitch Ray klagt, dass im „Tatort“ eine alte weiße Frau gemordet hat, wo doch der Nazi eigentlich der Täter hätte sein müssen. Andere Feministinnen wiederum bedauern, dass Frauen immer nur Opfer seien, auf dem Bildschirm wie im wirklichen Leben. Mehr todesmutige Frauen, bittschön! Mehr mordlustige Mädels! Die Jammerei über die Unterrepräsentation von Frauen nimmt inzwischen absurde Auswüchse an und entfernt sich damit immer mehr vom ursprünglich legitimen, tatsächlich Gerechtigkeit anstrebenden Anliegen.

Fast möchte man meinen, dass Jammern zum Fashion Accessoire geworden ist wie ein süßer, kleiner Spitz, den man am Gucci-Halsband die Promenade entlangführt. Es erstaunt immer wieder, wie sehr sich die ärmsten Hascherln und die weinerlichsten Burschis in erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer verwandeln, sobald die Followerschaft steigt. In diesen Fällen erledigt sich das Problem von selbst: Der Rubel rollt, die Tränen versiegen.

Schwieriger gestaltet sich die Angelegenheit mit weinenden Ideologen. Diese Jammerianer inspirieren sich an den Prämissen der postkolonialen Haut-Herkunft-Haut-Geschlecht-Fanatiker: Ich und meine Herkunft! Ich und meine Hautfarbe! Ich und mein Geschlecht! Mit dieser Trias wird inzwischen die kleinste soziale Ungerechtigkeit begründet. Als wahr und beklagenswert gilt dabei, was man selbst empfindet. Ins Recht gesetzt wird der Jammerer durch eine Präambel, die da lautet: Wer jammert, ist Opfer. Opfertum wird begründet durch Eigenproklamation. Nicht-Opfer sind privilegiert und damit zu Zurückhaltung und Demut aufgefordert, bis die strukturelle Benachteiligung von Opfern beendet ist und Opfer sich befreit haben.

Jammern als Geschäftsmodell

Stichtag ist der Sanktnimmerleinstag, da Tatsachenrelativismus und Opferabsolutismus zusammen mit dem Joker „Täter-Opfer-Umkehr“ ein bombensicheres System darstellen. Die Herrschaft der Jammerianer, gebaut auf Asymmetrien und schwankende Logik, kann nur zum Einsturz gebracht werden, wenn sich möglichst viele ihr verweigern. Gewaltlos ist dieser Widerstand, weil er die Epoche der Jammerei nicht als einzige Ausdrucksmöglichkeit von Leid anerkennt, sondern anknüpft an eine Zeit, in der Jammern als kunstvolle Klage und Denken Voraussetzung für Anklage war.

Selbstverständlich ist jedes Leid individuell empfunden. Daraus lässt sich aber noch kein Recht auf ungefiltertes Hinausplärren in den öffentlichen Raum ableiten. Der öffentliche Ausdruck des Leids ist formgebunden. Darin unterscheidet sich das Leid in nichts von Freude, Lust, Hass, Schmerz und Trauer. Man rennt schließlich auch nicht einfach auf die Straße und reißt sich die Klamotten vom Leib, bloß weil einem der Sinn danach steht. Kinder lernen, sich im Supermarkt nicht quengelnd auf den Boden zu werfen und alte Menschen zetern auch nicht lautstark vor Eisdielen, wenn Malaga und Amarena-Kirsche durch Limette-Basilikum und Orange-Kardamom ersetzt werden. Ausnahmen bestätigen wie stets die Regel!

Zeremonien sind eine besonders formbewusste Art, menschliche Gefühle einzuhegen, ohne sie zu unterdrücken, ihnen einen würdevollen Ausdruck zu verleihen, ohne ihnen die Wahrhaftigkeit zu rauben. Den Tod geliebter Menschen verschmerzt man nicht leichter, wenn man den Ablauf einer Beerdigung plant, die Trauerrede schreibt und das Kind ein Gedicht auswählt für den kontemplativen Moment am Grab der Großeltern. Der Schmerz aber wird gefasst und der Abschied von den Verstorbenen wird bedeutsamer als unser eigenes Leid.

Kulturelle Ausprägungen hat das Jammern viele. In Portugal erklingt es in der Musik: Fado nennt sich der Gesang, der von überirdisch schöner Wehmut ist und von den Fadistas als Geschenk Gottes betrachtet wird. Ein wundersames Elixier für Melancholiker ist der Gesang auch, da er in seiner Traurigkeit eine paradoxale, glücksspendende Wirkung erzielt. Auch die Bibel kennt die Gebetsform der Klage und stärkt mit ihr die Resilienz der Gläubigen. In den Klagepsalmen hadert der vom Schicksal Gebeutelte, klagt Gott an, verzweifelt und erlebt doch in der Bitte, im Vertrauen auf Gott den Triumph über die eigene Bitternis. Den Jammer-Influencern sei ein Blick in die Kulturtechnik des Klagens empfohlen.

Die Bibel lehrt, richtig zu klagen

Dass Menschen mit peinvoller Vergangenheit wenig Verständnis für Klagen über Nichtigkeiten haben, ist nachvollziehbar. Selbstbezogener Hochsensibilität stehen sie skeptisch gegenüber. Zu sehr hadern sie mit tatsächlichen existenziellen Problemen als den gerade hierzulande weit verbreiteten „Erste-Welt-Problemen“. Zu viel Kraft kostet es sie, sich dem Lebenskampf zu stellen und Mitmenschlichkeit und Liebe dabei noch Luft zu lassen. Anerkennung und Annahme des Geschehenen, so unerträglich es auf Außenstehende auch wirken mag, ist die schwer zu erreichende Zwischenetappe vor dem ersehnten Ziel der Überwindung.

Mit der kunstvollen Klage aber könnte eine Brücke geschlagen werden zwischen den Jammerianern und den Anti-Jammerern. Es tut beiden Seiten gut, wenn der Horizont über Bauchnabel und Kirchturmspitze hinausweist. Transzendenz und Form lassen das Diesseits nicht gering erscheinen, aber erträglicher. Manchmal, blickt man ganz weit nach oben, erscheint der Himmel dann nicht nur besonders blau, sondern auch das Leben wie in zartes Rosé getüncht. Ganz ohne rosarote Brille, und dagegen gibt's nun weiß Gott nichts zu meckern!

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Ute Cohen

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