Deva in Rumänien. Fast zwölf Monate bin ich dort gewesen, bei den „Ärmsten der Armen“. Bei denen, die materiell gesehen alles besitzen, was sie brauchen, denen aber das Wichtigste fehlt: Die Liebe, Freunde, eine Gegenwart, letztlich Gott. Seit 30 Jahren gibt es dort das Haus für Freiwillige, zu dem mich der Verein „Offenes Herz“ aus Deutschland gesandt hatte. Aus den unterschiedlichsten Ländern stammten wir jungen Volontäre. Und blieben dort ein bis zwei Jahre, für ein Leben des Gebetes und der Gemeinschaft. „Unsere Freunde“, so nannten wir die Menschen, die wir besuchten.
Zum Beispiel den kleinen Bogdan aus einem Sinti-und-Roma-Clan am Rand der Stadt, den seine Mutter als Zweijährigen zurückgelassen hatte. Mario, der nach einem Unfall halb gelähmt ist und in nostalgischen Erinnerungen an „sein Leben vor dem Unglück“ schwelgt – sprich den Großteil des Tages alte Fotos von sich betrachtet. Oder Margareta, die jeden Tag vorbeikommt, weil sie bei uns einen Zufluchtsort findet vor den vielen Menschen, die sie aufgrund ihres geistigen Handicaps verspotten oder ausnutzen.
Nicht, dass wir Freiwilligen in der Lage gewesen wären, Probleme und Schicksale zu lösen. „Wie Maria am Fuße des Kreuzes stehen“ – nach ihrem Beispiel versuchten wir, für unsere Freunde da zu sein. Als Jesus sterbend am Kreuz hing, hat Maria nicht aktionistisch Hilfe geholt oder Ratschläge gegeben, sondern sie war in erster Linie gegenwärtig, hat Jesus nicht alleine gelassen, sondern mit ihm mitgelitten.
Die einzigen Besucher der Woche
In einer Siedlung der Sinti wohnte eine Frau, die wir jede Woche gesehen haben. Die Gespräche drehten sich um ihre Arbeit, die sie anstrengt, ihr Haus, das sie umdekorieren möchte, und ihre Kinder, die mit Matschschuhen über den Teppich laufen. Nichts Besonderes, hätte man denken können. Doch am Ende fragte sie jedes Mal ein bisschen flehentlich, ob wir auch wirklich in der nächsten Woche wiederkommen würden, und winkte uns lange hinterher. Es ging nicht darum, worüber wir redeten. Entscheidend war, dass wir sie besuchten – die einzigen Besucher der Woche – und damit zeigten: Sie ist es würdig, dass jemand seinen Nachmittag für sie „aufwendet“. Ich glaube, in Wahrheit war es Jesus, den wir besuchten. In dieser Frau, die vielleicht nicht zu den „Weltbewegern von morgen“ gehört, aber die darauf wartet, gesehen und geliebt zu werden.
Ich hatte schon oft den Ausruf Jesu am Kreuz „Mich dürstet“ im Johannesevangelium gelesen. Auf dem „Kindertag“ unserer Kirchengemeinde ist mir klarer geworden: Jesus dürstet in den Menschen, die mich umgeben, die verlassen sind, die nach Liebe und einer Gegenwart rufen. Sein Durst ist so konkret, dass ich ihm nicht ausweichen kann. Kreidemalen, Pfeil-und-Bogen-Schießen, ein Schmink-Tisch, ein Fußballplatz, warmes Mittagessen – die Kinder hatten großen Spaß. Ganz am Rand stand ein kleines, schüchternes Mädchen. Sie erzählte mir, dass sie im Kinderheim eine Stadt weiter wohnt. Dementsprechend kannte sie fast niemanden der Kinder. Nachdem wir zusammen mit Hula-Hoop-Reifen gespielt hatten, musste ich leider weiter. „Was machst du?“ hat sie mich gefragt, und dann mit traurigem Unterton „Geh nicht weg“ geflüstert.
Wie so oft bei den Waisenkindern in Rumänien machte sich auf einmal etwas Leidgeprüftes an ihr bemerkbar. Es ging um viel mehr als den alltäglichen Umstand, dass ich nicht bleiben konnte: Um die vielen Situationen, in denen sie in ihrem Leben schon verlassen oder weitergereicht worden war. Um die Verzweiflung, zu niemandem zu gehören. Um den Durst nach jemandem, der bedingungslos für sie da ist – nicht nur bis zum Schichtende, wie die Erzieherin. Jesus selbst hatte mich an dem Tag mit den großen, dunklen Augen des kleinen Mädchens angeblickt und vor mir die Worte aus dem Evangelium wiederholt: „Mich dürstet“.
Die Autorin, 24 Jahre alt, hat Sprachwissenschaften studiert und arbeitet jetzt als Volontärin bei der „Tagespost“.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.