Im Schatten schier endloser Strukturdebatten und innerkirchlicher Grabenkämpfe greift eine zunehmende Erblindung für das eigentliche Ziel der Jünger Jesu um sich: Es geht für die Getauften um Heiligkeit, nicht um Anerkennung. Mit der Heiligsprechung des Cyber-Apostels Carlo Acutis erinnert die Kirche am Sonntag daran, dass Heiligkeit nicht in dramatischen Lebensläufen, sondern in der Treue zum Guten besteht.
Historisch gesehen ist die Zeit reif für einen Heiligen, dessen Charakteristikum seine Unauffälligkeit ist. Carlo Acutis ist nicht der erste Heilige, mit dem die Kirche ein pädagogisches Ziel anstrebt: Auch die Kanonisierung der heiligen Thérèse von Lisieux sollte genau dies bezwecken: die einfachen Gläubigen in ihrer Alltagsfrömmigkeit bestärken. Da jede Zeit ihre Vorbilder braucht, bietet Carlo Acutis den Jugendlichen ohne religiöses Umfeld mehr Identifikationsmöglichkeiten als die Tochter einer außergewöhnlich frommen Familie, deren Eltern ebenfalls heiliggesprochen wurden.
Das katholische Lebensgefühl der Generation Z ist ein anderes
Die Frage, was in puncto Heiligkeit eigentlich normal ist, wird von jungen Christen heute anders beantwortet als in der Boomphase des monastischen Frühlings. Das katholische Lebensgefühl ist in der Generation Z nicht mehr von den Dramen des 20. Jahrhunderts und auch nicht von der Askese der Kriegsgeneration bestimmt: Der Hunger nach Reisefreiheit, den die Babyboomer nach dem Mauerfall erlebten, verblasst allmählich, ebenso die Erfahrung totalitärer Regime.
Zweifellos wollte Papst Franziskus mit dem zügigen Heiligsprechungsverfahren des Carlo Acutis den geistlichen Erlebnishunger der Gegenwart von wahrer Heiligkeit abgrenzen. Ein Heiliger, der an Wunder glaubte, ohne sich von Privatoffenbarungen beeindrucken zu lassen, passt im Zeitalter der Eventisierung des Glaubens wie der Schlüssel ins Loch.
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