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Barbara Haid: „Wir haben einen Teil dieser Generation verloren“

Warum der Höhepunkt der psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen erst noch bevorsteht, weiß die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Barbara Haid.
KINA - Manche leiden besonders unter der Krise
Foto: dpa | Distance-learning hat den Kindern viel zu lange die Klassengemeinschaft mit ihrer Dynamik genommen und die Selbstunsicherheit vermehrt.

Durch die Corona-Pandemie sind Kinder und Jugendliche medizinisch eher wenig gefährdet, psychisch aber überdurchschnittlich. Warum?

Das ist richtig, die psychische Belastung aufgrund der Covid-19-Krise ist bei Kindern und Jugendlichen besonders stark. Vergessen werden oft die jungen Erwachsenen, die aus den Unterstützungsstrukturen für Kinder und Jugendliche herausfallen. Sie alle machen aufgrund ihres Alters eine unglaublich dynamische Entwicklung durch. Anders als die Erwachsenen, die oft jahrelang in ihrer psycho-sozialen Entwicklung auf einem relativ stabilen Niveau bleiben, müssen sich Kinder und Jugendliche von Jahr zu Jahr weiterentwickeln. In diesem Alter finden Reifeprozesse und Identitätsfindung statt.

Wir Erwachsenen können also in eine Art Stand-by-Modus gehen, aber Kinder und Jugendliche brauchen Entwicklung, die ihnen durch die Krise unmöglich gemacht wurde?

Genau. Sie wurden von außen in diesen Stand-by-Modus gezwungen und in ihrer Entwicklung gestoppt. Sie mussten stehen bleiben. Nun zeigen sich bei Kindern Ängste, Schlafstörungen, psychosomatische Reaktionen, viel Traurigkeit. Bei Buben versteckt sich Depression und tiefe Traurigkeit oft hinter Wut, Ärger, Aggressionen und Hyperaktivität. Sie konnten zu lange nicht wild herumtoben, haben auch jetzt noch zu viel Abstand zueinander. Bei Mädchen sehen wir Traumasymptome: Sie sind sehr ängstlich, traurig, schnell gestresst.

Für Eltern ganz erstaunlich: Viele Kinder sehnten sich zurück nach dem Präsenzunterricht in der Schule.

Ja, der Großteil hat sich nach den Klassenkameraden und nach den Lehrern zurückgesehnt. Für jene, die aus desolaten Familienverhältnissen kommen, ist die Schule auch eine Art Schutzraum. Lehrpersonen und Schulärzte bemerken schneller als die Nachbarn, wenn zuhause Gewalt im Spiel ist. Für einen breiteren Kreis der Kinder ist die Schule ein Ausgleich zur Familie, eine weitere Säule in der Entwicklung. Sie lernen auch durch die Begegnung mit den Gleichaltrigen und das Ringen um ihren Platz im Klassenverband. Hier lernt man, in Konflikte zu gehen und sich zu behaupten. Freunde kann man sich aussuchen, aber im Klassenverband muss man mit allen klarkommen. Da geschieht Entwicklungsleistung. Das Distance-learning hat dieses Außen genommen und die Selbstunsicherheit vermehrt.

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Können Kinder und Jugendliche die versäumten Entwicklungsschritte nun nachholen? Oder gibt es irreparable Schäden?

Ein Teil hat es gut gemeistert, ein weiteres Drittel wird mit guter Unterstützung unbeschadet aus der Krise kommen, aber bei einem Drittel wird es gravierende Schädigungen geben. Langfristig rechnen wir mit Depressionen, Angststörungen und erhöhtem Aggressionspotenzial. Bei Jugendlichen bemerke ich erhöhtes Suchtpotenzial, bei Mädchen einen enormen Anstieg der Essstörungen. Der Online-Konsum ist extrem gestiegen. Gleichzeitig haben Kinder und Jugendliche viel zu wenig Bewegung. Gaming- und Gamblingsucht stellten wir auch vor der Pandemie fest, aber durch sie ist das stark gewachsen. Auf den Jugendpsychiatrien sind die Sucht-Stationen extrem voll. Realistisch ist, dass wir einen Teil dieser Generation verloren haben. Es muss nun alles dafür getan werden, dass kein Kind und kein Jugendlicher unversorgt zurückgelassen wird.

Corona erwies sich für viele als Karriere-Killer. Rühren die Ängste und Unsicherheiten junger Erwachsener daher, dass Lehre, Studium, Job und Karriere weniger planbar wurden?

Da sind große Ängste, auch Depressionen. Junge Erwachsene sorgen sich weniger um die Gesundheit als um die berufliche Perspektive. Es herrscht zudem eine große Verunsicherung: Wem kann ich überhaupt noch vertrauen? Das Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger ist massiv erschüttert worden. Viele junge Erwachsene sind stark gefährdet, sich radikalen Strömungen zuzuwenden, weil das Vertrauen in die Mitte geschwunden ist.

Rührt das daher, dass wir bis zur Corona-Krise doch gut behütet waren, dann aber alle Sicherheiten brüchig wurden?

Ja, am Anfang der Krise hat es noch gut funktioniert. Da gab es einen gefühlten Schulterschluss, doch später lief vieles nicht gut. Es wurden Versprechen gemacht, die nicht gehalten wurden. Vor der Pandemie wussten wir im Wesentlichen, was morgen sein wird. Aber das ist vorbei. Das erschüttert unser Vertrauen in das Gesundheitssystem, in das Rechtssystem und in die Politik.

In den sozialen Medien wurde der Ton schärfer, die Radikalisierung sichtbarer. Führt das zu einer Spaltung der Gesellschaft?

Ich denke, das ist schon passiert. Bei Jugendlichen, die schon geimpft werden könnten, spüre ich, dass sie in ein Dilemma kommen: Wenn etwa die Eltern impfkritisch sind, aber die Schulkameraden und Lehrer Druck machen, sich zu impfen, dann sind sie im Konflikt. Da herrscht eine Spaltung, die Kinder und Jugendliche zerreißt. Ich frage dann: Wo bist denn Du selbst? Sie sollen innehalten und überlegen, wo sie selber stehen und was sie wollen. Es gibt unterschiedliche Positionen, die wir auch stehenlassen müssen. Es wäre schön, wenn wir lernen würden, die Welt mit den Augen der jeweils anderen zu sehen. Aber die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel haben nicht alle Menschen.

Kindern und Jugendlichen wird eingeredet, sie seien verantwortlich für die Älteren und Vulnerableren. Sie mussten um der anderen willen Abstand halten, jetzt sollen sie sich für die anderen impfen lassen. Muten wir Kindern zu viel zu?

Ganz sicher. Da hat sich etwas umgekehrt.

Was können Eltern und andere Bezugspersonen tun, um Kinder und Jugendliche zu stabilisieren und ihre Resilienz zu stärken?

Vor allem müssen sie den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zuhören. Wir müssen mit ihnen gemeinsam daran arbeiten, zu möglichst viel Normalität zu kommen.

Wenn Eltern in Panik und voller Ängste sind, können sie ihren Kindern keine Zuversicht und Hoffnung vermitteln. Spiegeln sich die Ängste der Eltern in den Kindern?

Ja, sicher. Darum ist die Schule so wichtig. Kinder lernen dort an unterschiedlichen Identifikationsfiguren, dass man mit derselben Situation unterschiedlich umgehen kann. Das ist wichtig. Wir haben vielfach durch die Stresssituation überforderte Familiensysteme. Wenn das auf eine vulnerable Phase eines zuvor stabilen Kindes trifft, ist die Gefahr groß, dass sich eine Angst oder depressive Symptomatik beim Kind festsetzt.

Behandeln Sie diese Kinder individuell oder systemisch?

Beides. In der Arbeit mit den Kindern ist die Eltern-Arbeit ganz zentral. Die Wahrnehmung der Eltern muss mit einfließen. Dabei betone ich stets, dass es nie um Schuld geht. Ein Viertel der Arbeit ist Systemarbeit, drei Viertel sind individuell – das ist die grobe Formel, aber es gibt auch abweichende Fälle.

Ist gesamtgesellschaftlich das Spektrum der psychischen Folgeschäden ausreichend auf dem Radar?

Sicher nicht. Die psychische Belastung ist enorm und die heftigste Welle kommt erst noch. Vergangene Krisen zeigen: Der Höhepunkt der psycho-sozialen Belastungen kommt erst nach dem Abklingen der ursächlichen Krise, weil die Psyche immer erst zeitverzögert reagiert. Die aktuellen Studien sind erschreckend, weil sie zeigen, dass die Belastungen jetzt viel höher sind als noch im Frühling. Wir haben den Zenit noch nicht erreicht. Die große Welle kommt, wenn die existenzielle Bedrohung vorüber ist. Dann hat sich die Angst chronifiziert: An die Stelle der Angst vor Corona tritt die Angst vor der Angst. Am Ende steht dann eine Angst vor dem Leben. Es wird bei uns als Gesellschaft etwas an Narben zurückbleiben.

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Stephan Baier Corona Pandemie Impfungen Krisen

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