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Ungeputzte Seele

Neurotische Herkunft und Gewalt: Der Roman „Nichts als die Nacht“ von John Williams. Von Stefan Meetschen

Romane von John Williams (1922–1994) sind etwas Besonderes. Nicht nur, weil der in Texas geborene Schriftsteller neben zwei Gedichtbänden lediglich vier Romane beendet hat - der menschliche Ton und die literarische Qualität seines schmalen Werkes besticht. Das konnte der Leser seiner ins Deutsche übersetzten Bücher bereits bei dem existenzialistischen Western „Butcher's Crossing“, dem antiken Briefroman „Augustus“ und nicht zuletzt bei dem Universitätsroman „Stoner“ erfahren, um den sich inzwischen ein posthumer Hype gebildet hat.

Nun liegt in guter Übersetzung von Bernhard Robben das Frühwerk, der erste Roman des lange Zeit unterschätzten, wenn nicht übersehenen Autors vor: „Nichts als die Nacht“ („Nothing but the Night“), den Williams mit Anfang 20 im Dschungel in Birma verfasst haben soll. Verletzt und traumatisiert – unmittelbar nach dem Absturz des amerikanischen Militärflugzeugs, auf dem er als Funker diente. Williams hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet.

Trotz dieser äußeren und inneren Extrembedingungen verfügt der Erstling von John Williams aber über eine erstaunliche Ruhe und Abgeklärtheit. Präzise und psychologisch genau werden die Akteure beschrieben, die Monolog- und Dialogführung ist konzentriert und dicht: „Alle versuchen zu tun, was sie für gut, für das Beste halten, und ... und wenn es nicht klappt ... es ist schwer, irgendjemandem daran die Schuld zu geben. Dinge geschehen einfach.“

So einfach und unangestrengt läuft auch die Handlung des Romans ab: Ein junger Student namens Arthur Maxley trifft sich mit einem Kommilitonen, der ihn um Geld bittet, dann mit seinem Vater, der ständig umherreist und schließlich in einem Tanzlokal mit einer gutaussehenden Frau namens Claire. Zunächst betrinkt er sich mit ihr, dann – als alles in ihrer Wohnung auf einen sexuellen Klimax hindeutet – bricht aus dem jungen Mann die Aggression hervor. „Ein letzter großer Schluchzer entriss sich seiner Kehle, er hob einen Arm, schlug blindlings zu, schlug wie wild in ihr Gesicht, spürte, wie sein Handrücken ins überraschte Fleisch ihrer Lippen sank, und noch ehe sie aufschreien konnte, schlug er aufs Neue zu, wieder und wieder, bis seine Arme nur noch leere Luft droschen.“ Gewalt gegen die Frau – ein Nachbar oder professioneller Aufpasser der Dame verabreicht Maxley dafür die verdiente Tracht Prügel.

So verstörend dieses Ende des kurzen Romans auch ist – völlig überraschend ist es nicht. Früh merkt man, dass Arthur Maxley ein gestörtes Verhältnis zu seiner Herkunftsfamilie hat. Neurosen verknüpfen sich mit religiösem Vokabular. „Unser Vater, der du bist im Himmel; unser Vater, der du bist im Himmel ...Vater, Vater, Vater, sagte er lautlos vor sich hin. Was für ein hässliches Wort.“ Die Mutterbeziehung wirkt innig und ungesund: „Manchmal legte sie die Arme um ihn, streckte sich neben ihm aus, zerzauste sein Haar und flüsterte ihm zu. Bei anderen Gelegenheiten wirkte sie abgelenkt, abwesend, nicht ganz bei ihm. Dann drückte sie ihn nur kurz an sich und murmelte Unzusammenhängendes; die seltensten Momente aber – für ihn die verblüffend schönsten – waren jene, wenn sie wie ein weißer Engel ins Zimmer schwebte, sich neben ihn setzte, ihn sanft umarmte, wenig redete und mit großer Zärtlichkeit und Ruhe sein erwartungsvolles, vom Mondlicht gebadetes Gesicht betrachtete.“

Was ist die Ursache für soviel Familienunheil? Zwischen Vater und Mutter hat sich einst eine „grässliche Szene“ zugetragen, die der kleine Arthur beobachtet hat. Offenbar hat die Mutter mit einem Revolver erst den Ehemann angeschossen und sich dann selbst gerichtet: „Sie lockerte, entspannte die Lippen, und ihre entblößten Zähne verschwanden. Ihr vollkommener Mund stand leicht offen. Langsam richtete sie die Waffe gegen sich und schob sich den noch qualmenden Lauf in den Mund. Er hörte den gedämpften Knall und sah, wie der Kopf nach hinten schlug. Ihr schmaler Körper sackte zu Boden und lag da, weiß, reglos und unfassbar klein. Er spürte nichts.“

Dass Williams, der insgesamt viermal verheiratet war und aufgrund des überschaubaren Debüt-Erfolges eine wissenschaftliche Laufbahn einschlug, mit einer solchen Thematik Anfang der 1940er Jahre nicht zum literarischen Shooting-Star aufstieg, ist einleuchtend.

Was kann uns das Buch heute sagen? Junge Leser, die Angry young men des 21. Jahrhunderts, dürften die Kommunikationsnot- und Sehnsucht des Protagonisten zur Identifikation nutzen können. Feministische Lesekreise dürfte „Nichts als die Nacht“ als erneuter psycho-literarischer Beleg maskuliner Gewaltpotenziale entgegenkommen. Bleibt die religiöse Lesart: „Hier sieht es aus wie in meiner Seele“, konstatiert Arthur Maxley beim Blick in sein Zimmer, um zu schlussfolgern: „Es ist nur ein Zimmer, und heute Vormittag kommt das Zimmermädchen, um sauber zu machen, nur meine Seele, die kann sie nicht putzen. Wer könnte das schon, die Seele säubern?“ Absolutionssehnsucht nennt man diese Haltung wohl.

John Williams: Nichts als die Nacht. dtv, 2017, 157 Seiten mit einem Nachwort von Simon Strauß, ISBN 978-3-423-

28129-4, EUR 18,–

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