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„Eine sanfte Gesellschaftstherapie“

Mit „Das therapeutische Kalifat“ gibt Giuseppe Gracia Einblicke in die heutige Meinungsdiktatur. Von Burkhardt Gorissen
Medien
Foto: dpa | Aufgabe der Medien: Machtkritik oder Regierungspropaganda?

In seinem letzten äußerst lesenswerten Roman der „Der Abschied“ schildert Giuseppe Gracia literarisch ansprechend und spannungsgeladen den Konflikt, in dem sich die westliche Wertegemeinschaft befindet. Eine Gemeinschaft, der es gegenwärtig an dem mangelt, was sie zu verteidigen vorgibt. Gracia ist nicht nur ein begabter Romancier, wovon es, nebenbei gesagt, im deutschsprachigen Raum nicht viele gibt, er ist vor allem ein durch und durch kritischer Geist. Als Mediensprecher des Bischofs von Chur, Vitus Huonder, ist er mit Gegenwartsfragen hautnah konfrontiert. Ein Umstand, der bei seiner kritischen Zeitanalyse eher hilfreich als hinderlich ist. Dass man ihn mit Etiketten versehen mag wie „konservativ“ oder „traditionsverbunden“, ist in Zeiten grassierender Hysterie, die sich unter dem Namen „politische Korrektheit“ austobt, durchaus als Lob zu verstehen. Die Kontroverse, die Gracia in „Der Abschied“ anschnitt, tangiert auch sein neues Buch.

Kein Roman diesmal, sondern ein Sachbuch. „Das therapeutische Kalifat“ ist im Fontis Verlag erschienen. Was mit dem Titel gemeint ist, erfährt der Leser gleich am Anfang: „Dieser Ausdruck stammt vom Schweizer Philosophen Michael Rüegg. Gemeint ist eine neue Form von Herrschaft, nicht im Namen eines Gottes oder im Sinne einer Diktatur wie in China oder Nordkorea. Sondern im Sinne einer gewissermaßen sanften Gesellschaftstherapie.“ Gewiss, wer Augen hat und sie nicht verschließt, sieht, dass das christliche Europa Vergangenheit ist. Durch die von führenden Politikern herbeigewinkte Flüchtlingswelle entstanden Entwicklungen, die nicht mehr aufgehalten werden können und längst fremdbestimmt alles Traditionelle überrollen. Ein Prozess, der in den kommenden Jahren immer weitere Millionen Menschen muslimischer Provenienz auf den Kontinent führen wird. Gracia spricht es ohne Umschweife aus: „Westeuropa als internationales, großes Therapiehaus... Wer sind die leitenden Sozial-Ingenieure, die assistierenden Gesellschaftsmediziner?... Wer sind die öffentlichen Meinungs-Krankenschwestern?“

Jeder, der hinschaut, erkennt, das große Polit-Theater gleicht einer Seifenoper, und die assistierende mediale Beeinflussung geschieht nach dem Prinzip des epischen Theaters, nur ohne Katharsis: „So wird die Berichterstattung vor allem mit Bildern und Geschichten von fliehenden Frauen und Kindern stattfinden, um den Zuschauer emotional für das redaktionelle Anliegen zu gewinnen – auch wenn statistisch gesehen die Mehrheit der Migranten aus diesen Ländern weder Frauen noch Kinder, sondern junge Männer sind. Männer, von denen sich oft nicht sagen lässt, wer sie wirklich sind und welche Ziele sie verfolgen.“ Und bieten antisemitische Einwanderer nicht auch eine Projektionsfläche für den eigenen Antisemitismus, der heute im Kleid des mainstreamliberalen Antizionismus einhergeht? Die betroffenen Bürger spüren, dass ihre Lebenswelt durch schwer durchschaubare Interessen zerstört wird. Die Vernichtung von Systemkritikern und Dissidenten, rüde propagiert vom diskursscheuen Kosmopolitentum, erscheint dem gegenüber wie eine permanente Verhöhnung des Normalbürgers. Daher ist nicht verwunderlich, dass es so viele Verschwörungstheorien gibt. Sie verweisen genau darauf und haben durchaus zutreffende Elemente. Doch was gilt das der Nomenklatura? Auch hier analysiert Gracia treffend: „Statt Bereitschaft für die Wahrheit dominiert ein öffentliches Gefühls-Management. Statt Reife zum Konflikt zelebriert man Überempfindlichkeit und larmoyante Rechthaberei. Statt der Machtkritik der Medien herrscht Regierungspropaganda.“ Kann man es genauer beschreiben? Macht es doch deutlich, wie schwach die kosmopolitische Politikerkaste und die sie abschirmenden journalistischen Hilfstruppen geworden sind. Heute stellt das Netz für das Privateste eine sensationsgierige Öffentlichkeit her, die sich im Namen der Demokratie als moralische Richterin aufspielt. Gracia scheut sich nicht, die Konsequenzen zu benennen: „Um die Grenzen dieses Korridors zu spüren, müssen Sie auf Facebook oder Twitter nur etwas Kritisches zum Islam, zum dominierenden Genderdiskurs oder gegen Abtreibung publizieren, dann werden Sie sehen, wie schnell man Sie zurechtweist.“ Was in Wahrheit vorgeht, ist der Angriff auf die traditionelle abendländische Kultur und erst recht auf alles Christliche. Ehedem christliche Parteien sind nur noch ein Hologramm von dem, das sie früher einmal waren, entkernt und ausgehöhlt von einem polit-medialen Wahrheitskartell und so sehr nach links orientiert, dass rechts eine schmerzliche Lücke klafft. „Das therapeutische Kalifat“ ist ein mutiges Buch. Mutig deshalb, weil es die verdrehende Verwirrtheit unserer Zeit benennt und sich nicht scheut, sie pointiert zu widerlegen. Gracia macht das sehr klug, er bedient sich nicht etwa der Holzhammer-Methode der Mainstreammedien, sondern wählt den aufrichtigen Weg der intellektuellen Auseinandersetzung. Dabei scheint ihm die menschliche Nähe durchaus zugute zu kommen, die seine Tätigkeit als Mediensprecher mit sich bringt. Hier ist jemand, der nicht vom Elfenbeinturm aus zeigefingerartig die Menschen dirigieren will – das kann er getrost den Feuilleton-Imamen des Mainstreams überlassen – Gracia schreibt für Menschen und Menschlichkeit, nicht gegen sie. Sein Buch will, ein weiterer Pluspunkt, nicht auf dem wissenschaftlichen Markt reüssieren, es ist durchweg leicht zu lesen. Jeder kann es verstehen. Das ist umso wichtiger, weil auf diese Art die sogenannte schweigende Mehrheit, die insbesondere in Deutschland mehr und mehr zu einer verschwiegenen Mehrheit wird, die Möglichkeit hat, sich fundiert zu informieren. Es ist sogar kunstvoll geschrieben, und von einer sprachlichen Genauigkeit, die man sich öfters bei politischen Texten wünschen würde.

Kurz und gut, Guiseppe Gracias „Das therapeutische Kalifat“ ist ein Muss für jeden, der an echter Aufklärung interessiert ist. Der dringende Diskussionsbedarf, unter dem die westliche, insbesondere die deutsche, Gesellschaft leidet, bekommt durch diesen Beitrag einen wichtigen Anstoß. Wichtig auch deshalb, um sich vor sich selbst, der Geschichte und vor allem Gott Rechenschaft abzulegen. Ein aufrüttelndes Buch. Bleibt, ihm viele Leser zu wünschen.

Giuseppe Gracia: Das therapeutische Kalifat. Meinungsdiktatur im Namen des Fortschritts. Fontis Verlag, Basel 2018, 64 Seiten, ISBN-13: 978-303848-

159-1, EUR 7,–

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