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Identität, Geschlecht und Familie

Es gilt, einen Blick auf die Wurzel der Entwurzelung der Menschen zu werfen. Ein Weg in die Zukunft.
Kind im Spiegel
Foto: pixabay/Malenka | Ein Kind findet erst nach und nach seine Identität. Außer dem Spiegel aus Glas braucht es auch den Spiegel der Familie dazu.

Wenn wir von der Entwurzelung des Menschen sprechen, stehen wir gegenwärtig vor einem doppelten Phänomen. Zum einen sehen wir einen geradezu naturgegeben erscheinenden historischen Prozess, der durch technischen Fortschritt, geänderte sozioökonomische Verhältnisse, Vervielfältigung persönlicher Optionsmöglichkeiten und zunehmenden Individualismus gekennzeichnet ist. Zum anderen können wir seit geraumer Zeit die Tendenz der wirtschaftlichen, politischen und medialen, ja sogar kirchlichen Eliten in westlichen Gesellschaften beobachten, den negativen Folgen dieser Entwicklung auf die familiären, wirtschaftlichen und identitären Verhältnisse der Menschen nicht gegenzusteuern, sondern diese zu verstärken und ideologisch zu befeuern.

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Wir sehen das genauso im Bereich der wirtschaftlichen Globalisierung, der Migrationspolitik und Demographiepolitik, wie in der Familien- und Gleichstellungspolitik, Stichwort Gender. Der Erosion nationaler, staatlicher und familiärer Ordnung mithilfe von Ideologien eine Art normativen Status zu geben, scheint den verwirrten Seelen in den Führungsschichten ein angenehmes Narkotikum zu sein. Zumindest angenehmer als nüchterne Analyse und die daraus folgenden Anstrengungen verantwortlichen Handelns, vor allem gegen die Widerstände übermächtig erscheinender Interessengruppen, die unsere gesellschaftliche Entwicklung begleiten.

Wir können die Gesellschaft beeinflussen

Wenn wir unseren Blick auf den Bereich Identität, Geschlecht und Familie lenken, befinden wir uns gleichsam an der Wurzel der Entwurzelung des heutigen Menschen. Es geht also ums Eingemachte. Genau an dieser Stelle aber tut sich Hoffnung auf. Denn wir, das Fußvolk, sind fähig, an entscheidenden Punkten in den für uns hoffnungslos unbeeinflussbar erscheinenden Strom unserer gesellschaftlichen Entwicklung einzugreifen. Wir können Familie gründen und Familie gestalten und an der Identitätsentwicklung unserer Kinder wesentlich Anteil nehmen, wobei uns deren natürliche Tendenz zur Identifikation mit ihrer Herkunft entgegenkommt.

Vater -Tochter
Foto: pixabay / sarahbernier3140 | Aus dem Spiel Vater - Tochter entwickelt sich das Männerbild einer jungen Frau und damit auch die natürliche Neigung zum anderen Geschlecht.

Der Psychologe Klaus Schneewind bringt diese Hoffnung auf den Punkt, wenn er in Übereinstimmung mit sämtlichen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie zu dem Ergebnis kommt, dass Zuneigung, emotionale Wärme, klare Regeln, Bereitstellung angemessener Anregungsbedingungen und Gewährung sich erweiternder Handlungsspielräume seitens der Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit zu selbstbewussten, emotional stabilen, sozial kompetenten, selbstverantwortlichen und leistungsfähigen Kindern führt (Oerter Montada, Entwicklungspsychologie).

Identität und Selbstwirksamkeit

Mit der Identität eines Menschen meinen wir in erster Linie sein Selbstbild. Es geht um die Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ Berührt sind hierbei auf der emotionalen Ebene Selbstwert und Selbstvertrauen, auf der geistigen Ebene Wissen über sich selbst. Ein Wissen, das Herkunft und geschlechtliche Identität genauso miteinschließt, wie Werte und Grundeinstellungen. Schließlich gehört zu diesem Selbstbild auch eine Vorstellung über die eigenen Fähigkeiten und die Kraft, etwas zu beeinflussen und zu gestalten, kurz, ein Wissen um die eigene Selbstwirksamkeit. Der Weg zu solch einer Identität erscheint heute oftmals komplizierter als in früheren Zeiten. Er erfordert einen Prozess der Integration unterschiedlicher Einflüsse. Dabei kommt der Herkunftsfamilie fundamentale Bedeutung zu.

Die Provokation der Geschlechtlichkeit

Die Architektur der biologischen Familie und die in ihr gelebte Sexualität als Schnittstelle zwischen den Generationen werden heute durch die Genderideologie angegriffen und infrage gestellt. In neomarxistische Manier geht diese Ideologie davon aus, dass menschliche Verhältnisse grundsätzlich kulturell konstruiert seien.

Unterschiede zwischen den Menschen insbesondere zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, werden vorwiegend als Quelle von Ungleichheit und Diskriminierung gesehen. Allein die Perspektive der intakten biologischen Familie scheint zu provozieren. Menschliche Strukturen wahrzunehmen bedeutet nämlich immer, Heiles und Unheiles zu unterscheiden, gute und weniger gute Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung der Kinder zu erkennen. Es geht den Ideologen also darum, in den Köpfen der Menschen von vornherein eine Sichtweise zu implementieren, die diese Unterschiede einebnet. Hierzu dient ein neues, instrumentelles Verständnis der menschlichen Sexualität. Diese wird als Lustelement aus vorgegebenen Lebensformen gleichsam extrahiert und mit beliebigen Lebensentwürfen und Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht, die dann alle als gleichwertig und gleich förderungswürdig angesehen werden sollen. Ein Prozess der Dekonstruktion und Destruktion, der mit Wucht medial und pädagogisch auf unsere Kinder und Jugendlichen einwirkt.

Familie und Formung durch Rollenbilder

Werfen wir nun einen Blick auf das angesprochene Generationengefüge und seine identitätsstiftende Kraft, wobei wir uns streng an die Empirie halten. Kern dieses Gefüges ist die auf Harmonie, Ergänzung und lebenslange gegenseitige Unterstützung angelegte Gemeinschaft von Mann und Frau. Die Frau ist im Durchschnitt kleiner und körperlich schwächer als der Mann, hat eine hohe Stimme, weiche Körperformen und ein geringeres Selbstbewusstsein, ist fürsorglicher und harmoniebedürftiger. Das kleine Mädchen ist von Geburt an mehr auf zwischenmenschlichen Kontakt aus und spielt gerne mit Puppen. Herangewachsen neigen Frauen zu mehr familienorientierten Lebensentscheidungen, zu Mischformen aus Beruf und Familie und zu weniger technischen und prestigeträchtigen, dafür mehr sozial sinnerfüllten Tätigkeiten.

Mutter Sohn
Foto: pixabay / LisaLiza | Ein bis zum Ende des Lebens gibt es ein ebenso notwendiges wie auch ambivalentes Verhältnis: die Beziehung zwischen Mutter und Sohn.

Für die Kinder, Buben wie Mädchen, steht die Mutter für bedingungslose Akzeptanz und Geborgenheit. Während sie für den Sohn die erste große Liebe darstellt, organisiert sich die Identität der Tochter als Frau über das Vorbild der Mutter. Die Tochter lernt, wie es ist, eine Frau zu sein. Typisch frauliche Interessen können gemeinsam ausgelebt werden. Später reflektiert die Tochter den Lebensentwurf der Mutter, um zu eigenen, korrigierenden Lebensentscheidungen zu kommen. Als Beispiel hierfür sei auf die erstaunlich geschlechtstypischen Lebensentwürfe vieler Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion verwiesen, deren Müttern unter dem Diktat der Kommunisten ein eher männertypischer Lebenslauf aufgezwungen wurde.

Das Vorbild des Vaters

Kommen wir zu den Männern. Bei ihnen finden wir einen kräftigen und kantigen Körperbau, tiefe Stimme, Neigung zu berufsorientierten Lebensentscheidungen und die gehäufte Tendenz zu technischen, prestigeträchtigen und hochdotierten Tätigkeiten. In der Familie zeigt der Mann eine eher instrumentell-organisatorische als unmittelbare Fürsorglichkeit. Als Vater steht er für eine Art Mentoring ins Leben hinaus, insbesondere für die Söhne. Für die Tochter bedeutet der Vater die erste große Liebe und die Bestätigung in ihrer Weiblichkeit. Töchter suchen bisweilen ihr Leben lang nach ihrem Vater, erstaunlicherweise nie nach einer zweiten Mutter.

Die männliche Identität der Söhne entwickelt sich wesentlich über das Vorbild des Vaters. Das Bild des Vaters begleitet sie unter vielerlei Aspekten ein Leben lang. Die Geschwister stehen für die Dauer ihres Lebens in einem Solidaritätsverhältnis und bilden dadurch gegenüber den jeweiligen Familien und Freundeskreisen ein eigenes Sicherheitsnetz. Umso mehr Geschwister jemand hat, umso geringer ist die spätere Scheidungsrate ihrer Ehen. In der Kindheit wird gelernt, was man miteinander aushalten kann. Was die langfristige Entwicklung der aus ihr hervorgegangenen Kinder anbelangt, ist die intakte biologische Familie allen anderen Lebensformen weit überlegen. Dies gilt genauso für psychische Stabilität, Kriminalitätsrate, Suchterkrankungen und finanzielle Selbständigkeit, wie für die Wahrscheinlichkeit, selber wieder eine stabile Familie mit Kindern zu gründen.

Der Kern

Natürlich ist hier mit Familie nur der Kern dessen beschrieben, was in unserer historischen Entwicklung vom „afrikanischen Dorf“ übriggeblieben ist. Was festgehalten werden soll ist, dass die Identitätsentwicklung des Menschen, entgegen den Vorstellungen des Mainstreams, entlang distinkter, natürlich vorgegebener Strukturen des generationenübergreifenden Gefüges der Familie verläuft, in denen sich über Beziehung und Liebe die Entwicklung des Individuums vollzieht. Bei allem Flurschaden, den Ideologien anrichten können, ist es der Menschheit bisher noch nie gelungen, diese Struktur nachhaltig auszuhebeln. Für uns kann diese Botschaft eine große Ermutigung sein.

Info: kurz gefasst

Die Identitätsentwicklung des Menschen verläuft, entgegen den Vorstellungen des Mainstreams, entlang distinkter, natürlich vorgegebener Strukturen des generationenübergreifenden Gefüges der Familie. Es ist der Menschheit bisher noch nie gelungen, diese Struktur nachhaltig auszuhebeln. Die natürliche Tendenz der Individuation Jugendlicher geht in Richtung Identifikation mit ihrer Herkunft.


Der Autor:

Christian Spaemann
Foto: privat | Christian Spaemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie.

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