„Jedes Reich, das in sich gespalten ist, wird veröden und eine Stadt und eine Familie, die in sich gespalten ist, wird keinen Bestand haben“ – soweit Jesus im Matthäus-Evangelium. Natürlich sollte man sich hüten, Jesusworte als politikwissenschaftliche Expertise zu deuten. Und gerade in Demokratien sind Meinungsverschiedenheiten essentiell; politische Gegensätze dürfen gerne auch hart aufeinanderprallen. Trotzdem kann es ein Maß an Spaltung geben, das den Fortbestand einer politischen Gemeinschaft in Frage stellt.
Wenn, wie jetzt in den Vereinigten Staaten, vor der Wahl nicht klar ist, ob sich die Kontrahenten nach der Wahl anstandslos dem Votum des Wählers fügen werden, ist die Demokratie als solche bedroht. Wenn sich zwei Lager gegenüberstehen, die den Wahlsieg des jeweils anderen als so bedrohlich empfinden, dass es ihn gegebenenfalls auch um den Preis des Wahlbetrugs zu verhindern gilt, ist die Fortexistenz der Gemeinschaft prekär.
Egal also, wer nach der morgigen Wahl den Sieg davonträgt, entscheidend ist die Anerkennung des Wahlausgangs durch alle Beteiligten – wobei keinesfalls unterschlagen werden soll, dass nur das Trump-Lager explizit offengelassen hat, ob es einen Harris-Sieg anerkennen wird.
Auch in Europa steht die Demokratie unter Druck
Warum aber treibt uns das Schicksal Amerikas derart um, da wir doch nur Zuschauer sind? Der Verlauf der nächsten Tage könnte auch für uns Europäer zur Zäsur werden, wenn sich Amerika von Demokratie und Rechtsstaat abwenden sollte. Die Amerikaner selbst haben sich selbst, wiederum in Anlehnung an ein Jesuswort, oft als „City upon the hill“ bezeichnet: als leuchtendes Zeichen, dass ein Leben in Freiheit und Demokratie möglich ist. Und tatsächlich dürfte es den „freien Westen“ schwer treffen, wenn die liberale Demokratie in ihrem größten und (einfluss-)reichsten Staat schwindet.
Schon heute steht die freiheitliche Demokratie von verschiedenen Seiten unter Druck: Während auf europäischer (und nationaler) Ebene durch Meldestellen, Hassrede-Gesetze und Social-Media-Regulierung das für die liberale Demokratie fundamentale Ideal der freien Rede beschädigt wird, erwägen Teile der politischen Eliten in Deutschland ernsthaft das Verbot einer 20-Prozent-Oppositionspartei, in deren Dunstkreis freilich die Bewunderung für illiberale Regierungsformen ebenfalls jeden Tag wächst.
Scheitert die amerikanische Demokratie, dann dürfte auch in Europa quer durch das politische Spektrum die Überzeugung an Fahrt gewinnen, dass die liberale Ordnung am Ende und autoritäres Durchgreifen Gebot der Stunde ist. Das sollte, abseits aller politischen Präferenzen, insbesondere Christen schrecken, die bekanntermaßen gerade in Europa zur Minderheit werden. Nicht in der freiheitlichen Demokratie, sondern vor allem unter autoritären Regierungsformen kommen Minderheiten unter die Räder.
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