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Mit Erdoğan im Gespräch bleiben

Wer mit Israel solidarisch sein will, darf jetzt nicht in die Isolationsfalle tappen. Der Westen muss auf die regionalen Akteure deeskalierenden Einfluss ausüben.
Präsident Recep Tayyip Erdogan
Foto: IMAGO/dts Nachrichtenagentur (www.imago-images.de) | Mit Erdogan im Gespräch zu bleiben ist wichtig, denn Außenpolitik ist Realpolitik und muss sich auch an geopolitischen Wirklichkeiten orientieren.

Außenpolitik ist kein Wunschkonzert. Wer hier erfolgreich sein möchte, muss zunächst einmal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Die Geografie zum Beispiel. Mit Blick auf Israel bedeutet das, die Stimmungslage bei den arabischen Nachbarn Israels, aber auch in der Türkei und im Iran sorgsam im Auge zu behalten. Läge Israel irgendwo zwischen Deutschland, Luxemburg und der Schweiz, hätte es weniger Probleme. Das ist aber bekanntlich nicht der Fall. Die historische Aussöhnung mit Ägypten und Jordanien war darum für Israel alternativlos. Eine wache Wehrhaftigkeit ebenso.

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Und ebenfalls alternativlos waren die Begegnungen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Scholz mit dem türkischen Präsidenten am Freitag in Berlin. Denn Recep Tayyip Erdoğan ist ein bedeutender, ein überaus schwieriger, aber ein nicht völlig unberechenbarer Player im Nahen Osten. Wenn er die Hamas als „Befreiungsorganisation“ preist und Israel zum „Terrorstaat“ erklärt, dann nicht etwa, weil er ein islamistischer Ideologe ist (obwohl er das teilweise auch ist), sondern weil er ein pragmatischer Volkstribun ist: Erdoğan kennt die Meinungsumfragen in der Türkei genau, und er glaubt nach wie vor, dass er dazu berufen sei, die laute Stimme der einfachen Muslime im östlichen Mittelmeerraum zu sein. Der real existierende Volkszorn der arabischen Straße ist für ihn wichtiger und wegweisender als diplomatisches Fingerspitzengefühl, staatspolitische Verantwortung oder die Stabilität in Nahost.

Hält sich Erdoğan zumindest in Taten zurück?

Europäische Politiker müssen Erdoğan öffentlich, klar und deutlich widersprechen, erstens um der Wahrheit willen, zweitens um in ihrer eigenen Öffentlichkeit Klarheit zu schaffen und drittens um den Pragmatiker, der im politischen Überlebenskünstler Erdoğan eben auch steckt, zur Zurückhaltung zu mahnen – wenn schon nicht in seinen Worten, dann zumindest in den Taten. Aber sie sollten all das tun ohne die Hoffnung, den Volkstribun vom Bosporus zu erziehen, zu bekehren oder zu einem Umdenken zu veranlassen.

Erdoğan hat nämlich absolut keine Lust, die traditionelle Israel-Freundlichkeit der Türkei fortzusetzen, wenn die islamische Welt gerade wieder einmal in Wallung gerät. Und er hat noch weniger Lust, sich an die Rolle zu halten, die ein Drehbuch aus Europa oder aus den USA vorsieht. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, mit Erdoğan im Gespräch zu bleiben. Denn ob der Krieg im Heiligen Land zu einem Flächenbrand ausartet, wird möglicherweise weder in Jerusalem noch in Tel Aviv entschieden, und ganz gewiss nicht in Gaza. Sondern bei jenen benachbarten Regionalmächten, die gerade überlegen, wie viel Öl sie ins Feuer gießen sollten. Es ist also im Interesse Israels, dass seine Freunde und Verbündeten in der Welt in dieser Stunde nicht tatenlos abwarten, sondern eine besonnene Strategie der Deeskalation verfolgen.

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