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Minderjährige Opfer von Menschenhandel auch in Deutschland

Die rumänische Psychologin Iana Matei arbeitet mit minderjährigen Opfern von Menschenhandel. Im „Tagespost“-Interview spricht sie über Herkunft und Schicksal ihrer Schützlinge.
Interview zum Thema Menschenhandel
Foto: (619651040) | "In allen Staaten muss noch viel getan werden, um den Kampf gegen Menschenhandel zu verstärken", meint Iana Matei gegenüber der "Tagespost".

Frau Matei, mit "Reaching out Romania" retten Sie seit bald 25 Jahren Kinder und Jugendliche aus den Händen von Menschenhändlern. Wer sind diese Kinder und wie geraten sie in die Hände von Menschenhändlern?

Als wir Ende der 1990er Jahre mit unserer Arbeit begannen, waren die Opfer von Menschenhandel meist über 18, nur etwa zehn Prozent waren minderjährig, aber nicht unter 16. Dann sank das Alter allmählich und die Zahl der Opfer nahm zu. Mittlerweile arbeitet „Reaching Out Romania“ nur noch mit minderjährigen Mädchen, die Opfer von sexueller Ausbeutung wurden. Menschenhändler „rekrutieren“ immer jüngere Opfer, weil diese leichter zu kontrollieren sind. Das Durchschnittsalter ist mittlerweile bei 13 Jahren. Bis sie 18 sind, lernen sie in Rumänien, dass dies das einzige Leben ist, das sie erwarten können. Mit 18 werden sie dann in andere Länder „exportiert“. Ihre Peiniger können dann sicher sein, dass sie der Polizei bei einer möglichen Befragung an der Grenze die „richtigen“ Antworten geben.

Wie gelangen diese Mädchen in die Hände der Menschenhändler?

Es gibt mehrere Methoden. Die häufigste und wirksamste ist die „Loverboy-Methode“, bei der der Täter ein heranwachsendes Mädchen in sich verliebt und dann emotional abhängig macht. Wir alle wissen, dass man sich in der Pubertät in fünf Minuten verliebt und sich noch schneller wieder verlässt. Doch für die Opfer der Loverboy-Methode ist es leider nicht so leicht, aus den Fängen dieser „Beziehung“ wieder herauszukommen. Viele der Mädchen kommen aus armen und sozial schwachen Kontexten und sind froh, wenn sich jemand um sie kümmert. Andere sind mit dem Bild aufgewachsen, dass man als Paar in guten und in schlechten Zeiten zusammenbleibt. Sie akzeptieren dann, dass sie auf der Straße anschaffen gehen, um ihren Partner zu ernähren, in der Hoffnung, dass die Zeiten wieder besser werden. 

"Für die Opfer der Loverboy-Methode
ist es leider nicht so leicht, aus den Fängen
dieser ,Beziehung' wieder herauszukommen"

Ein anderer, häufiger Fall ist, dass eine Familie in finanzieller Not sich verschuldet, das Darlehen und die Zinsen nicht zurückbezahlen kann und ihre Gläubiger stattdessen ein Kind mitnehmen, das dann Opfer sexueller Ausbeutung wird, oft auch im Ausland. In diesem Fall zeigen die Eltern das Verschwinden des Kindes nicht an und auch die Kinder suchen keine Hilfe, da sie Angst um ihre Familie haben.

Wie kommen die Opfer zum Beispiel von Rumänien zum Beispiel nach Deutschland?

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Laut rumänischem Gesetz darf kein Kind die Grenze ohne seine Eltern überqueren, es sei denn, seine Begleiter haben ein von den Eltern unterzeichnetes und beglaubigtes Papier. In manchen Fällen, die dem oben geschilderten, geben die Eltern ihre Unterschrift. Menschenhändler arbeiten mit ihren eigenen Notaren, die die Papiere beglaubigen. Wenn die Mädchen über 18 sind, haben sie auch eigene Pässe – und werden bis dahin eben in Rumänien ausgebeutet. Wenn sie dann 18 sind, überqueren sie die Grenze und erklären den Beamten, sie würden mit ihrem Verlobten nach Deutschland zum Arbeiten gehen.

Was ist der Unterschied zwischen Ausbeutung und Sklaverei?

Es gibt keinen Unterschied. Wir nennen es nur anders, weil Sklaverei so hässlich klingt.

Wie kommen die Mädchen zu „Reaching Out Romania“?

Manchmal rufen uns die Eltern persönlich an. Oft sind es Jugendamt oder Polizei, die die Mädchen an uns verweisen. Wie haben in unserer Region ein Safe House, wo wir die Mädchen aufnehmen, sie schützen und uns um sie kümmern. Wir helfen ihnen, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden, wieder in die Schule zu gehen. Außerdem arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die Prävention betreiben. Wir sind nur eine kleine Organisation und leben ausschließlich von Spenden. Es gäbe noch viel mehr Arbeit, auch Lobbyarbeit, aber wir haben alle Hände voll damit zu tun, die Mädchen zu versorgen.

Neben der Soforthilfe, die Sie leisten, muss Menschenhandel auch strukturell bekämpft werden. Tut der rumänische Staat genug gegen Menschenhandel?

In allen Staaten muss noch viel getan werden, um den Kampf gegen Menschenhandel zu verstärken. In Rumänien haben wir nicht genügend Jugendämter und Stellen, die sich um Opfer von Menschenhandel kümmern. Personal ist in den betroffenen Bereichen, wie überall in Rumänien, knapp. Außerdem haben wir zwar entsprechende Gesetze, aber die sind oft nicht bekannt oder werden nicht umgesetzt. Zum Beispiel kennen die Jugendämter zwar das Kinderschutzgesetz, oft aber nicht das Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels. Da fehlt es auch an der entsprechenden Ausbildung. 

"In allen Staaten muss noch viel getan werden,
um den Kampf gegen Menschenhandel zu verstärken"

Welchen Eindruck haben Sie von der Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Zielländern von Menschenhandel in Europa?

Ein Bewusstsein für das Problem scheint mir in allen Ländern zu herrschen, aber die Verantwortung wird gerne wie eine heiße Kartoffel vom einen zum anderen geschoben. Ein Herkunftsland wie Rumänien ist beispielsweise der Ansicht, dass das Zielland, zum Beispiel Deutschland, dafür sorgen muss, dass es keine Klientel mehr für Menschenhandel gibt. Deutschland müsse die Nachfrage verringern, damit auch das Angebot sinkt. In Deutschland ist Prostitution legal und hier herrscht eher die Ansicht vor, dass es Aufgabe Rumäniens ist, zu verhindern, dass minderjährige Rumäninnen als Prostituierte nach Deutschland kommen.

Wie sieht es in Rumänien mit der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Institutionen aus?

Viele Verfahren nicht klar festgelegt. Diesbezüglich bräuchten wir eine bessere zwischeninstitutionelle Zusammenarbeit, denn wir NGOs können den Opfern nicht ohne die Unterstützung der öffentlichen Einrichtungen helfen und umgekehrt. Es gibt ein diesbezügliches Gesetz aus dem Jahr 2011, mit dem die EU-Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer umgesetzt wird. Laut dem Gesetz sollen alle Institutionen, die für die Bekämpfung und Verhinderung von Menschenhandel zuständig sind – Staatsanwaltschaft, Polizei, Bildungs- und Gesundheitsministerium sowie Nichtregierungsorganisationen – ein Protokoll über ihre Zusammenarbeit erstellen. Das Gesetz ist aber weitgehend noch Theorie. In unserem Kreis Argeș in der Region Walachei haben wir dank einer großzügigen Förderung des deutschen Unternehmens Kaufland nun ein Pilotprojekt zur Erarbeitung eines solchen Protokolls zwischen den regionalen Institutionen. Es geht vor allem darum, Vorgehensweisen zu vereinbaren und Informationen auszutauschen, um die Last von den Schultern der Oper zu nehmen. Es ist für die Opfer sehr belastend, beispielsweise zunächst beim Arzt eine Aussage zu machen, dann sie bei der Polizei zu wiederholen und noch einmal beim Staatsanwalt. Wenn für alle beteiligten Personen und Institutionen klar ist, wie in welchen Fällen vorgegangen wird, dann entlastet das alle und vor allem die Opfer. Am Ende unserer Arbeit soll ein Protokoll stehen, dass hoffentlich als Vorbild für die gesamte Region dienen wird.


Im Frühjahr erhielt Iana Matei den mit rund 30.000 Euro dotierten Eichstätter Shalompreises 2023, den der Arbeitskreis für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt verleiht.

Das Thema der Woche der nächsten „Tagespost“-Ausgabe beschäftigt sich mit dem weltweiten Milliardengeschäft des Menschenhandels, das besonders auch Kinder und Jugendliche gefährdet. Lesen Sie die Texte dazu in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".

Themen & Autoren
Franziska Harter

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