Die AKP sei zunächst eine Reformbewegung gewesen, an der Konservative, Liberale und Linke mitwirkten, sie habe jedoch in den vergangenen zehn Jahren die Autokratisierung vorangetrieben. Diese Bilanz zieht, wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei, der Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, Cengiz Günay. „Ein parlamentarisch-demokratischer Staat wurde zu einem ganz auf Erdoğan zugeschnittenen Präsidialsystem umgebaut.“
Eine Epoche geht zu Ende
Dass Präsident Erdoğan bereits geschlagen sei, will Günay nicht sagen. Dennoch gehe eine Epoche zu Ende: „Zweifellos ist der AKP-Chef ein begnadeter Wahlkämpfer, der Modernisierung und finanziellen Aufschwung versprochen hat. Genau das ist allerdings jetzt ins Stocken geraten.“ Die Wahlen werden nicht fair sein, weil staatliche Ressourcen und der Zugang zu den Medien ungleich verteilt sind, aber doch frei.
Pragmatiker und Machtmensch
Den türkischen Volkstribun, der es zum längstdienenden Machthaber seines Landes brachte, schätzt der Politikwissenschaftler so ein: „Erdoğan ist ein Pragmatiker und Machtmensch, der die Zeichen der Zeit liest und sich danach ausrichtet. Ihm geht es immer um die Maximierung seiner Macht und seines Einflusses.“ Er habe zwar einen ideologischen Hintergrund, setze aber die islamischen Referenzen ein, wenn er sie braucht – „und lässt sie weg, wenn er sie nicht braucht“.
Ob Erdoğan noch einmal das Ruder herumreißen kann oder Mitte Mai Geschichte sein wird, entscheidet aber weder die religiöse noch die geschichtsideologische Perspektive. „Wenn die AKP abgewählt wird, dann wegen der Wirtschaftskrise und der Fehler rund um das Erdbeben“, so Günay im „Tagespost“-Interview. DT/sba
Lesen Sie das vollständige Interview zu den bevorstehenden Schicksalswahlen in der Türkei in der kommenden Ausgabe der "Tagespost".