Es geht ein Ruck durch Afrika, der sich bei anhaltender Dynamik zu einem Beben ausweiten und manche Regierung und Elite des Kontinents vom Sockel stoßen könnte. Die aktuellen Protestbewegungen wären dann nur Vorboten. Es hat zwischen Kairo und dem Kap seit dem Ende der Kolonialzeit immer schon Proteste und sogar Bürgerkriege gegen herrschende Machthaber gegeben. Was die derzeitigen Demonstrationswellen jedoch auszeichnet, ist eine ungewohnte Dynamik, denn es sind vor allem junge Menschen, die auf die Straße gehen: in der Elfenbeinküste, in Madagaskar und zuletzt auch in Marokko.
An allen Ecken und Enden Afrikas brodelt es. Die Motive unterscheiden sich im Detail, doch es sind im Kern dieselben Ursachen, die den Groll der Jugend auslösen und sie auf die Straße treiben: Korruption, Misswirtschaft, Verschwendung, marode Infrastruktur, fehlende soziale Sicherung und vor allem Perspektivlosigkeit, so lauten die Vorwürfe an die Regierenden in Antananarivo, Abidjan und Rabat.
Jugendbewegungen haben größere Chancen als früher
Beispiel Madagaskar: Die andauernden Strom- und Wasserausfälle waren der Auslöser für eine breite Protestbewegung in dem südostafrikanischen Inselstaat, die von der sogenannten Generation Z, den unter 30-Jährigen, angeführt wird. Präsident Andry Rajoelina hat nach einer von den Protesten angetriebenen Militärrevolte am 13. Oktober schließlich die Flucht nach Frankreich, zur früheren Kolonialmacht, ergriffen. Ein wichtiges Land Südostafrikas ist, Stand Mitte Oktober, damit führungslos. Zusammen mit Gewerkschaften und anderen Gruppen waren Jugendliche seit dem 25. September auch gegen Korruption und schlechte Regierungsführung auf die Straße gegangen. Rajoelina hatte den Rücktritt zunächst abgelehnt, bis ihn eben das Militär aus dem Amt jagte. Seine Regierungszeit wäre bis 2028 gelaufen.
Noch kurz vor dem Putsch versprach er laut Medienberichten: „Wenn es in einem Jahr in Antananarivo immer noch Stromausfälle gibt, werde ich zurücktreten.“ Am Ende war der Druck der Straße zu groß, zumal Rajoelina, der vielen lange als ein Hoffnungsträger in Afrika galt, auch wegen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten mit Wasserwerfern, Gummigeschossen und scharfer Munition in der Kritik stand. Dabei wurden laut den Vereinten Nationen mindestens 22 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt.
Die Protestbewegung in Madagaskar gibt auch Hinweise darauf, warum Jugendbewegungen heute größere Chancen haben als in früheren Generationen. So organisieren sich die Gen Z-Protestierenden vor allem über Facebook. Das geht schnell, überbrückt Distanzen und zeigt breite Wirkung. Das Internet bietet neue Mittel und Wege, auch wenn die Symbolik nicht jedermanns Sache sein mag. Signet von Gen Z ist, wie auch bei Protesten in Nepal, Indonesien, Peru und Frankreich, ein Totenschädel mit Strohhut aus der japanischen Anime-Serie „One Piece“.
Für ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem
Gen Z gibt es auch in einer kulturell ganz anders geprägten Region Afrikas: in Marokko. Dort demonstriert sie seit Ende September für eine Verbesserung des Bildungs- und des Gesundheitssystems sowie gegen die Korruption im Land. Die Demonstranten fordern einen Regierungswechsel, beginnend mit dem Rücktritt des Regierungschefs Aziz Akhannouch. Gen Z 212, so der Name der marokkanischen Bewegung, hat Anfang Oktober nochmals bekräftigt, nicht von ihren Forderungen abzurücken, auch wenn die täglichen Demonstrationen pausierten. In Marokko herrscht Unzufriedenheit, besonders über die soziale Ungleichheit. Vor allem junge Menschen sind betroffen.
Den Anlass für die aktuelle Protestwelle hatten Mitte September Berichte über den Tod von acht schwangeren Frauen gegeben, die für einen Kaiserschnitt in ein staatliches Krankenhaus in Agadir eingeliefert worden waren. Die Vorfälle wurden als Beleg für Missstände in Marokkos Gesundheitssystem gewertet.
Die Protestbewegung Gen Z 212 lehnt nach eigenen Angaben jedweden gewaltsamen Protest ab. Dennoch kam es Anfang Oktober in mehreren Orten zu gewaltsamen Zusammenstößen. Im südmarokkanischen Lqliaa, nahe der Stadt Agadir, starben drei Demonstrierende. Nach Regierungsangaben wurden sie von der Gendarmerie in Notwehr getötet, als Demonstranten versucht haben sollen, eine Wache zu stürmen. Am 7. Oktober erhielt ein Mann eine zehnjährige Haftstrafe, wie die Nachrichtenagentur AFP aus Justizkreisen erfuhr. Ihm werde unter anderem Brandstiftung und Gewalt gegen Sicherheitskräfte vorgeworfen. Sechs weitere Menschen sitzen im Zusammenhang mit den Protesten aktuell in Rabat in Haft, wie die marokkanische Menschenrechtsorganisation AMDH erklärte. Demnach wurden zudem gegen rund 180 weitere Menschen Vorwürfe erhoben.
Gewinne fließen ins Ausland
Beispiel Elfenbeinküste, ein vergleichsweise reiches Land und nach Nigeria das wirtschaftlich zweitstärkste Westafrikas: Hier finden am 26. Oktober Präsidentenwahlen statt. Die amtierende Regierung unter dem 83-jährigen Staatsoberhaupt Alassane Ouattara hat mittlerweile sämtliche Demonstrationen verbieten lassen, die die umstrittene Kandidatenliste infrage stellen. Die Kandidaten der Oppositionsparteien PPA-CI, Laurent Gbagbo, und der PDCI, Tidjane Thiam, dürfen nicht zu den Wahlen antreten. Ouattara indes kandidiert entgegen früherer Ankündigungen zum vierten Mal - und setzt dafür auf die massive Präsenz von Sicherheitskräften. Dem Nationalen Sicherheitsrat zufolge sollen 44.000 Mann von Gendarmerie, Polizei und Armee für „friedliche Wahlen“ sorgen.

Angesichts dieser Ausgangslage überrascht es nicht, dass auch in der Elfenbeinküste vor allem junge Leute hinter dem Protest gegen die Regierung stehen, die sich um ihre Wahlfreiheit und Zukunft betrogen fühlen. Stein des Anstoßes sind neben dem autoritären Gebaren Ouattaras aber auch alte Seilschaften aus kolonialer Zeit: So hält die politische Elite mehrheitlich an den historischen Verknüpfungen zu Frankreich fest. Die jüngere Generation teilt diese Verbundenheit nur noch bedingt. „Die Emanzipation Côte d’Ivoires von Frankreich ist unausweichlich“, meint ein 30-Jähriger, der in Frankreich studiert hat, im Gespräch mit der Zeitung taz. Das französische Schweigen zum autoritären Gebaren der Regierung werde als Komplizenschaft wahrgenommen, auch wenn mit China schon längst weitere Konkurrenz aus Übersee auf den Plan getreten ist.
Tatsächlich profitieren französische Konzerne von den rund sieben Prozent Wirtschaftswachstum in der Elfenbeinküste. Aber nur eine Minderheit der Bevölkerung profitiert vom Aufschwung. Wenige, hauptsächlich multinationale Konzerne, erwirtschaften den größten Teil des Wachstums. Die Gewinne fließen größtenteils ins Ausland. Die große Mehrheit der meist heimischen kleinen und mittleren Unternehmen erwirtschaftet viel weniger. „Die afrikanischen Gesellschaften werden immer jünger, und die junge Generation bricht mit den Mustern der Kolonialzeit. Ob es Frankreich passt oder nicht, der Wandel ist schon im Gange“, sagt Stanislas Zézé von Bloomfield Investment der taz. Mit seinen 29 Millionen Einwohnern, von denen 70 Prozent jünger als 35 Jahre sind, setzt die Elfenbeinküste zwar auch auf Branchen wie FinTech, wo seine internetaffine Jugend besondere Stärken hat. Aber das reicht nicht, um den riesigen Bedarf an neuen Jobs zu decken.
Der „jüngste“ Kontinent der Welt
60 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt, was Afrika zum „jüngsten“ Kontinent der Welt macht. Nun begehren die jungen Menschen in allen Teilen des Kontinents auf. Aus historischer Perspektive ist das nicht neu. Man denke an den Schüleraufstand in Soweto 1976, ein frühes Fanal gegen das Apartheidregime Südafrikas. Aber auch an die Studentenproteste in Kenia, die bis zum Sommer ein Jahr lang das wirtschaftlich eigentlich starke ostafrikanische Land erschütterten. Angetrieben wurden sie vom weit verbreiteten Zorn über brutal durchgreifende Polizisten, von Arbeitslosigkeit und einer von vielen als gescheitert empfundenen Regierung unter Präsident William Ruto.
Neu sind das gestiegene Selbstbewusstsein der Jugend und die Möglichkeiten der Vernetzung. Die Kirche steht oft an der Seite der Protestierenden. In der Elfenbeinküste etwa ist sie laut Amnesty International die einzige Instanz, die noch Kritik an der Regierung wagt. Manches spricht dafür, dass sich die Kraft der Jugend in Afrika beim Einsatz für Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität weiter Bahn bricht.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.