Im Oktober feiert die Türkei ihren 100. Geburtstag. Ob dann Recep Tayyip Erdoğan noch an der Spitze des Staates steht und der Welt erklären lässt, warum er den Staatsgründer Atatürk als Neugründer der modernen Türkei übertrifft, entscheiden die Wähler am 14. Mai. Wie Erdoğan und seine AKP die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewinnen wollen, war bis vor wenigen Tagen ein Rätsel: Die von Fehlentscheidungen des Präsidenten angefeuerte Hyperinflation und die Jahrhundert-Katastrophe des Erdbebens, die multiples Staatsversagen offenlegt, ließen eine Ohrfeige für die seit zwei Jahrzehnten Herrschenden erwarten.
Der Schaden ist angerichtet
Doch dann kam das Oppositionsbündnis dem Herrscher zu Hilfe: Sechs Parteien, die nur die Feindschaft zu Erdoğan eint, versuchten, einen gemeinsamen Spitzenkandidaten zu küren. Wer läge da näher als die populärsten Oppositionspolitiker, die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, die der kemalistischen CHP angehören? So dachten viele, aber nicht CHP-Chef Kemal Kiliçdaroğlu. Der war für sich selbst. Kurz zerbrach der „Sechsertisch“; Die Chefin der nationalistischen Iyi-Partei schimpfte, die Wahl zwischen Erdoğan und Kiliçdaroğlu sei eine „zwischen Tod und Malaria“. Dann raufte man sich wieder zusammen: Kiliçdaroğlu soll Präsident werden, die Bürgermeister von Ankara und Istanbul Vizepräsidenten.
Aber der Schaden ist angerichtet: Der Hass auf Erdoğan allein kittet die Risse im Bündnis kaum. Kiliçdaroğlu gilt als sauber, ehrlich, anständig und langweilig. Der aus der ostanatolischen Region Tunceli stammende Alevit hat sich als bürokratischer Kämpfer gegen Korruption einen Namen gemacht, ist aber kein charismatischer Wahlkämpfer. Sollte Erdoğan am 14. Mai wider alle Schwerkraft das Präsidentenamt verteidigen, verdankt er das seinen Gegnern. Und deren Unfähigkeit, das schnellste Pferd ins Rennen zu schicken
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