Nun also doch: Die Pariser Kathedrale Notre-Dame erhält keine Schönheitsoperation modernistischer Kur nach Emmanuel Macrons Rezept. Nachdem sich der französische Präsident zuvor für eine „Verbindung von Tradition und Moderne“ eingesetzt hatte, zwingen nun ganz pragmatische Erwägungen zu einem Rückzug. Keine Weltstadt kann es dulden, dass eines ihrer Symbole derart lange eine Baustelle bleibt; besonders nicht, wenn es sich um einen Touristenmagneten handelt. Das scheinen die wahren Überlegungen zu sein. Das eigene Denkmal wird von den Nöten der Zeit verhindert. Paris kennt mit dem Elefanten der Bastille eine ähnliche Posse: Das geplante Napoleondenkmal hatte als halbgare Idee niemals die Herzen der Franzosen gewinnen können.
Architektonische Schönheit muss über Geltungsdrang triumphieren
Dabei existieren historisch erfolgreiche Vorbilder. Als 1902 in Venedig der Glockenturm von San Marco einstürzte, lautete beim Wiederaufbau die Parole: wo er war, wie er war. Das war die stolze Ansage des Bürgermeisters Filippo Grimani, die nicht Rückwärtsgewandtheit, sondern Kontinuität und Geschichtspflege verdeutlichen sollten. Die Kathedrale Notre-Dame ist wie der Campanile ein Wahrzeichen der Stadt, für das ebenso nur gelten kann: wo sie war, wie sie war. Es wäre wünschenswert, folgte der Wiederaufbau daher nicht kühlen Berechnungen, sondern aus dem Bewusstsein, dass architektonische Schönheit über Geltungsdrang triumphieren muss.
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