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Junge Menschen verlieren das Vertrauen in den Kapitalismus

Unter jungen Menschen schwindet das Vertrauen in die kapitalistische Wirtschaftsordnung.
Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus"
Foto: dpa | Jüngere Deutsche sehen die Marktwirtschaft kritisch – sind aber deswegen nicht automatisch Marx-Anhänger.

Es ist eine Nachricht, die einerseits in Zeiten von Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie, Klimawandel und wirtschaftlicher Krise nicht vollkommen überrascht, aber dennoch bei nicht wenigen Menschen Anlass zur Sorge geben dürfte: Junge Menschen in Deutschland, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, denken überwiegend antikapitalistisch und trauen der Sozialen Marktwirtschaft nicht viel zu.

Das Meinungsforschungsinstitut Civey befragte im Auftrag des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ von November 2021 bis zum Januar 2022 mehr als 3000 junge Menschen zwischen 16 und 29 Jahren zu ihren Einstellungen in Bezug auf die Wirtschaftsordnung und die konjunkturelle Lage. Sechs von zehn Befragten sagten gegenüber Civey, dass sie nicht der Ansicht sind, dass die Wirtschaftsordnung in Deutschland die Verheißungen einer Sozialen beziehungsweise sozialen Marktwirtschaft tatsächlich erfüllt. Besonders junge Frauen empfinden, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen: Nur knapp jede fünfte weibliche Befragte lebt gefühlt in der sozialen Marktwirtschaft – bei jungen Männern sind es doppelt so viele. Blickt man jedoch auf die politische Orientierung der Befragten, dann unterscheidet sich die Einstellung zur Marktwirtschaft und zum Kapitalismus erheblich. Denn während bei Anhängern von CDU/CSU und der FDP eine absolute Mehrheit die soziale Marktwirtschaft als gesellschaftliche Realität ansieht, ist das bei potenziellen Wählern aller anderen Parteien nicht der Fall – am seltensten bei denen der Linken und der AfD.

Woher kommen die Zweifel?

„Ist der Kapitalismus das bestmögliche Wirtschaftssystem in Deutschland?“ Nur eine knappe relative Mehrheit der jungen Menschen würde diese Frage bejahen. Auch bei der Beantwortung dieser Frage spielt die politische Orientierung eine Rolle: Wer den Kapitalismus für das bestmögliche Modell hält, sieht auch die soziale Marktwirtschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit verwirklicht und umgekehrt. Nur die Anhänger der AfD sind trotz ihrer kritischen Einschätzung mit absoluter Mehrheit grundsätzlich für den Kapitalismus.

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Woher kommt aber der Zweifel an der Sozialen Marktwirtschaft? Darüber gibt die Umfrage von Civey und Spiegel leider kaum Auskunft. Gemutmaßt wird hier, dass Corona und die damit verbundenen Wirtschaftsprobleme allgemein zur Ernüchterung beigetragen haben. Die Gründe könnten aber auch tiefer liegen.

Der Kapitalismus eignet sich als Sündenbock für alles

Gerade – und beinahe zeitgleich mit der Veröffentlichung der Umfrage – hat der Soziologe und Autor Rainer Zitelmann sein neuestes Buch mit dem Titel „Die zehn Irrtümer der Anti-Kapitalisten“ im Finanzbuch-Verlag veröffentlicht. Zitelmann ist in seiner Studentenzeit überzeugter Marxist gewesen und gehört heute in Deutschland zu den meinungsstärksten Verteidigern des Kapitalismus. Der heute 64-Jährige kritisiert, dass auf den Kapitalismus alles abgeladen wird: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Ungleichheit, Faschismus, selbst die eigenen psychischen und beruflichen Probleme, wenn es im Leben mal nicht so läuft.

Für sein Buch hat Zitelmann bei den Meinungsforschungsinstituten Allensbach und Ipsos eine Bevölkerungsumfrage in 14 Ländern über die Haltung zum Kapitalismus in Auftrag gegeben. Die größten Anhänger des Kapitalismus leben demnach interessanterweise in Polen – die meisten Anti-Kapitalisten wiederum leben in Frankreich. Insgesamt ist nur in vier Ländern die Zahl der Anhänger des Kapitalismus größer als die der Gegner: in den USA, Korea, Japan und Polen.

Staatsgläubig und etatistisch

Dass auch Deutschland eher im antikapitalistischen Lager zuhause ist, verwundert Rainer Zitelmann nicht: In seinem Innersten ist Deutschland laut Zitelmann immer staatsgläubig und etatistisch gewesen – was der frühere Bundeswirtschaftsminister und -kanzler Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft geschaffen hat, sei historisch eher als eine Ausnahme zu betrachten. Auch Erhard habe, so Zitelmann, beispielsweise das Wort „Kapitalismus“ gemieden, und lieber von „Sozialer Marktwirtschaft“ gesprochen. Denn dieser wusste, so der Soziologe, um die mehrheitlich antikapitalistische Grundeinstellung vieler Deutscher sowie um die lang anhaltende Tradition dieses Denkens.

Um nicht weiterhin zahlreiche Vorurteile gegenüber dem Kapitalismus zu bestätigen, liegt es nun vor allem an der Ampelkoalition, das Vertrauen sowohl in die Leistungsfähigkeit als auch in die soziale Wirksamkeit der Marktwirtschaft neu zu entfachen.

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