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Gibt es eine „kindliche“ Sexualität?

„Sexualpädagogik der Vielfalt“ in katholischen Kindergärten: Der Entwicklungspsychologe Markus Hoffmann analysiert die Schwachstellen und Gefahren.
Kinder müssen erst lernen, wie und wo sie Grenzen setzen können
Foto: Ralf Hirschberger (dpa-Zentralbild) | Kinder müssen erst lernen, wie und wo sie Grenzen setzen können, sollen und vielleicht müssen.

Herr Hoffmann, Sexualpädagogik der Vielfalt hat Eingang in zahlreiche, auch katholische Kindergärten gefunden. Deren sexualpädagogische Konzepte beruhen auf der Annahme der Existenz einer kindlichen Sexualität. Kann man aus entwicklungspsychologischer Sicht überhaupt von (früh-)kindlicher Sexualität sprechen?

Dazu kann die Wissenschaft keine finalen Aussagen machen, denn die empirische Basis fehlt. Die meisten Untersuchungen, die zu Kindheit und Sexualität existieren, beruhen entweder auf retrospektiven Untersuchungen – also den Berichten Erwachsener in Bezug auf ihre eigene Kindheit – oder auf den Beobachtungen von Eltern. Es gibt nur ganz wenige Beobachtungen, die Forscher an Kindern direkt gemacht haben und die sind forschungsethisch sehr problematisch. Und dann kommt es auf die Definition an: Ist das Spielen des Säuglings an den eigenen Genitalien schon Sexualität? Sexualität ist im Menschen letztendlich ein doppelter Begriff, denn die vorhandene biologische Sexualität muss psychologisch angeeignet werden. Das braucht Zeit. Kinder betrachten andere nicht als „sexuelles Wesen“.

Erst ab etwa dem neunten Lebensjahr können sie Sexualität im Zusammenhang von Frau, Mann, Kind und Liebe denken. Und es braucht dann noch bis über das 17., 18. Lebensjahr hinaus, bis der Mensch Sexualität, Lust, Beziehung und Liebe in seinem Leben zu einer Einheit bringen kann. Das hängt vor allem mit der mentalen Reifung zusammen, die sich erst ab der Pubertät im Bereich des präfrontalen Kortex vollzieht. Daher kann man zu Recht in Zweifel ziehen, ob es sich bei dem, was man bei Kindern als Sexualität beschreiben will, im vollumfänglichen Sinne um Sexualität handelt. 

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Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Zunächst muss festgehalten werden, dass sich ein Kind durch Berühren seiner Geschlechtsorgane Lust verschaffen kann. Selbstbefriedigung, so sagen einige Sexualforscher, sei aber deshalb noch kein Marker für den Eintritt eines sexuellen Denkens. Denn meist wird Selbstbefriedigung vom Kind eher zufällig entdeckt. Sie hält dann einige Zeit an und verschwindet dann wieder. Und auch aus entwicklungspsychologischer Sicht ist uneindeutig, warum ein Kind zur Selbstbefriedigung greift. Untersuchungen legen die Annahme nahe, dass sie für einen Teil der Kinder eine Randerscheinung ist. Andere Untersuchungen beobachten jedoch auch, dass Kinder Selbstbefriedigung zur Bewältigung eines Bindungsmangels und dem damit verbundenen Stress benutzen. Das deckt sich auch mit Aussagen von einigen unserer Klienten, die von früher Masturbation, Bindungsverlust und emotionaler Unterernährung berichten. 

In den sexualpädagogischen Konzepten wird Selbstbefriedigung als etwas gesehen, das für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls zentral sei und nicht ausgebremst werden dürfe.
Der Zusammenhang von Selbstbefriedigung und Körpergefühl wird zwar behauptet, ist aber für die Kindheit nicht nachgewiesen. Gegenüber dieser Hypothese müsste im Rahmen einer Sexualpädagogik, die sich auf wissenschaftliche Evidenz beruft, eine andere These diskutiert werden. So entwickelt sich Sexualität im Menschen im Kontext seiner eigenen Geschlechtlichkeit als Mann und Frau und in Bezug auf Partnerschaft. Insofern muss Sexualität im Laufe der Zeit in das größere Konstrukt Beziehung eingeordnet werden.

"Kinder brauchen Bindung."

Der Punkt ist jetzt der: Wenn man Autosexualität – ein anderes Wort für Selbstbefriedigung –, also die Sexualität mit sich selbst unterstützt, dann wird im Kind ein Konzept von Sexualität gefördert, das von den Aspekten Geschlechtlichkeit, Partnerschaft und Familie getrennt ist. Es findet eine Parzellisierung der eigentlichen menschlichen Sexualität statt, die zu einer einseitigen Betonung EINER Form von Sexualität führt. Das Phänomen beobachten wir auch bei jugendlichem Pornografiekonsum: Untersuchungen zeigen, dass, wenn autoerotische Lust zu viel Platz einnimmt, junge Männer später Schwierigkeiten haben, die eigene Lust in die Partnersexualität einzubringen.

Ein zweites wiegt jedoch noch schwerer. Christa Wanzeck-Sielert, die die Sexualpädagogik der Vielfalt für das KiTa-Alter ausbuchstabiert hat, erklärt, Selbstbefriedigung tröste das Kind über die Frustration des Bindungsverlusts hinweg, der mit der Autonomieentwicklung verbunden sei. Jetzt wissen wir aber aus der Bindungsforschung genau das Gegenteilige: Kinder brauchen Bindung. Den Rückzug dagegen in Selbstbefriedigung beobachten wir eher bei Kindern, die sich bindungslos fühlen. Wenn man nun aber Selbstbefriedigung mit dem Argument fördert, man könne dadurch Bindungsfrustration beheben, dann fördert man eine Bindungslosigkeit beim Kind. 

Für „Doktorspiele“ inklusive Ausziehen und gegenseitigem Untersuchen an den Genitalien gibt es mittlerweile auch in manchen katholischen Kindergärten „Kuschelecken“ oder „Höhlen“. Jedes Kind soll entscheiden dürfen, mit wem es dort spielt und was es zulässt oder nicht. Aber sind Kleinkinder psychisch überhaupt dazu in der Lage, bewusst und freiwillig „Ja“ oder „Nein“ zu sagen?

Die Sexualpädagogik der Vielfalt knüpft das „Ja“ und „Nein“ des Kindes zu einem Doktorspiel unter anderem an das „Verstehen des Vorschlags“, die „Einschätzung bezüglich möglicher Konsequenzen und Alternativen“ und das „Wissen über gesellschaftliche Standards im Zusammenhang mit dem, was vorgeschlagen wird“. Damit wird aber vom Kindergartenkind ein abstraktes Denken gefordert, zu dem es nach Stand der Entwicklungspsychologie erst ab dem 12. Lebensjahr fähig ist. Ein Kind im Kindergartenalter kann sein „Ja“ oder „Nein“ nur in Bezug auf ganz konkrete Handlungen treffen, die es als angenehm oder unangenehm empfindet. So etwas Abstraktes wie etwa „gesellschaftliche Standards“ oder das Abwägen von Konsequenzen ist dem Kind jedoch nicht im umfassenden Sinne möglich. Damit überfordert die Sexualpädagogik der Vielfalt das Kind. Sie handelt in Unkenntnis dessen, was uns die Entwicklungspsychologie lehrt. 

Sicher haben Kinder in einem bestimmten Alter eine natürliche Entdeckungslust, die sie in der Regel im natürlichen Raum der Familie befriedigen können. Das muss nicht extra gefördert werden, denn die bewusste Förderung mutet dem Kind etwas zu, das es nicht bewältigen kann. 

"Die Kinder werden damit total überfordert,
wie jedem klar sein dürfte,
der ein entwicklungspsychologisches Basiswissen hat."

Wie kann man als Erzieher denn überhaupt zwischen einem einvernehmlichen Doktorspiel und einem sexuellen Übergriff unterscheiden?

Genau das ist die Schwierigkeit. In der Praxis ist es auch schwer zu unterscheiden, welches Kind vielleicht zu Hause Bindungsschwierigkeiten hat und sich die fehlende Nähe in diesem Erlebnisraum von Sexualität im Kindergarten holt und dabei möglicherweise auch Grenzen überschreitet. Vielleicht lebt es selbst in bindungsgeschädigten Beziehungen, in denen es keine Grenzen erlebt. Und so gut ausgebildet sind die Erzieher nicht, als dass sie das in jedem Fall erkennen können. Dazu kommt noch der dramatische Personalmangel in KiTas.

Übrigens schlagen die entsprechenden Konzepte dann vor, im Fall von Grenzverletzungen mit den Kindern zu reden und auf Einsicht zu setzen. Aber gerade das ist, wie gesagt, jenseits der kognitiven Fähigkeiten eines Kindergartenkindes! Die Kinder werden damit total überfordert, wie jedem klar sein dürfte, der ein entwicklungspsychologisches Basiswissen hat. Kindern müssen Grenzen auf der Ebene von Handlung möglichst simpel erklärt werden. Da muss man nicht über Einsicht gehen, sondern da muss man einfach deutlich sagen, dies oder das geht nicht.

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Die Sexualpädagogik der Vielfalt argumentiert auch mit dem Präventionsaspekt: Durch die körperlichen Erfahrungen lerne das Kind, was es mag und was nicht und entsprechend ein „Ja“ oder ein „Nein“ zu artikulieren. 

Es gibt keine Wirkungsstudien darüber, die besagen, dass die Sexualpädagogik der Vielfalt wirklich Missbrauch vorbeugt. Zwar haben ihre Träger über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung politisch durchgesetzt, dass sie als Prävention gilt, aber es ist wissenschaftlich sehr umstritten, Sexualpädagogik und Prävention zu vermischen. Das sagt zum Beispiel das sogenannte IGEL-Projekt der Universitäten Duisburg-Essen und Bielefeld zur Prävention von sexualisierter Gewalt sehr deutlich. Die Verfasser des Projekts weisen darauf hin, dass es auch international sehr umstritten ist, Sexualaufklärung und Prävention gleichzeitig zu betreiben, weil der positive Bereich der Sexualität dann mit dem negativen Erleben von Grenzsetzung vermischt wird.

Wie sieht denn gute Prävention aus? Wie kann ich mein Kind stärken, damit es kein leichtes Opfer wird?

In der Prävention wollen wir Kinder auf Situationen vorbereiten, in denen es unter großer Belastung ein Nein setzen muss. Dazu braucht es ganz andere Fähigkeiten als die, die über Sexualpädagogik abgedeckt werden. Das Gegenmodell zur Prävention über die Sexualpädagogik ist, sexualitätsunabhängige Situationen herzustellen, um dort die sogenannten exekutiven Funktionen zu trainieren. Das Modell der exekutiven Funktionen ist ein neurologisch gedachtes Modell und in der Pädagogik eigentlich relativ „in“.

Man weiß zum Beispiel, dass Kinder in Belastungssituationen den präfrontalen Kortex noch nicht so leicht vom Gefühlsbereich abtrennen können und daher leichter nachgeben, wenn der Stress ansteigt. Das heißt, es muss diese Belastungssituationen trainieren, in denen es Stress erlebt und unter Stress einen freien Willen entwickeln und Nein sagen muss. Das kann man in ganz neutralen Situationen üben, etwa beim Sport oder in der Erlebnispädagogik. Durch Sexualpädagogik kann dann ein solches Training unterstützt werden.


Markus Hoffmann ist Entwicklungspsychologe, Sexualberater und praktischer Theologe.
Er leitet den Studiengang „Leib – Bindung – Identität. Entwicklungssensible Sexualpädagogik“ an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz in Österreich.

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