Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Eine Weihnachtsnovelle

Gloria in excelsis

1914: Das Wunder der Heiligen Nacht. Eine Weihnachtsnovelle.
Eine Weihnachtsnovelle
Foto: xWirestockx via imago-images.de (www.imago-images.de) | Eine Novelle ist kein strenger Tatsachenbericht, sondern eine Erzählgattung, die mit einem sogenannten Dingsymbol – hier dem Gloria – eine Handlung stilistisch verdichtet und dabei historisch plausible, durch Quellen ...

Januar 1985, ein frostiger Sonntagmorgen in unserer Klosterkirche. Ich war elf Jahre alt, Ministrant mit frisch gebügeltem Chorrock und einem viel zu großen Kreuz um den Hals. Die Messe war soeben zu Ende gegangen, und der alte Kapuzinerpater hatte das Gloria wieder einmal auf Latein angestimmt. Das machte er gern so, im Unterschied zu den jüngeren Patres, die das deutsche „Ehre sei Gott in der Höhe“ bevorzugten. Warum ich das erwähne?

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Gerade deshalb stand plötzlich ein älterer Herr in der Sakristeitür – hager, gebeugt, auf einen Gehstock gestützt. In das Gesicht hatte ein langes Leben seine Furchen gegraben, doch die Augen blickten wach und freundlich. Er wartete, bis Pater Bonifaz sein Messgewand abgelegt hatte, dann trat er einen Schritt vor.

„Entschuldigen Sie, Pater“, sagte er leise, „das lateinische Gloria in excelsis Deo … das haben Sie heute gesungen. Darf ein alter Mann Ihnen etwas dazu erzählen?“ Der gute Pater Bonifaz lächelte, das tat er eigentlich immer: „Aber natürlich. Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich denke, die Buben hören auch gerne zu.“

Weihnachten im Krieg

Wir vier Ministranten – der Michi, die beiden Zwillinge und ich – unterbrachen das Aufräumen, ließen die Kerzen Kerzen sein und setzten uns auf die Holzbank neben dem Ofen. Der alte Herr nahm Platz, holte tief Luft und begann mit einer Geschichte, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist:
Es war Heiligabend 1914. Wir lagen südlich von Ypern, im flachen, schlammigen Niemandsland nahe der holländischen Grenze – Ploegsteert Wood, wo sich die Front in die flämische Tiefebene grub. Ich gehörte zum 12. Bayerischen Infanterieregiment, 6. Kompanie. Seit Oktober standen wir hier; die Engländer waren keine zweihundert Meter entfernt, und wir hörten sie nachts husten, fluchen, manchmal sogar lachen.

Historische Fotografie, Soldaten im Schützengraben, Horchposten, Erster Weltkrieg, Rumänien
Foto: Imago/Imagebroker (www.imago-images.de) | Auf der anderen Seite stehen auch Menschen: Weihnachten 1914 ließ diese einfache Wahrheit mitten im industrialisierten Krieg neu aufleuchten.

Ich war damals Gefreiter, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wir waren alle erschöpft und durchgefroren. Seit der Ersten Ypern-Schlacht von Oktober bis November 1914 hatten wir vierzig Prozent Verluste erlitten; die Männer waren nass, hungrig, ausgebrannt. Aber mutlos? Noch nicht. Viele glaubten immer noch an „Weihnachten daheim“, wie der Kaiser versprochen hatte. Die Schützengräben waren neu, der Bewegungskrieg noch nicht in den mörderischen Stellungskrieg übergegangen.

Unser Zugführer war Leutnant von Kranz, vierundzwanzig Jahre alt, aus altem preußischem Geschlecht, Kadettenschule Potsdam. Ein schlanker, blonder Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, stets blank geputzten Stiefeln; die Pickelhaube saß wie angegossen. Und ein stolzer Verächter des Glaubens. Seine protestantische Mutter hatte ihm zum Abschied sogar einen Rosenkranz mitgegeben – Perlen aus Olivenholz, ein Kreuz aus Silber. Das sollte ihn beschützen. Er hatte gelacht: „Mutter, das ist was für Bayern und Polen. Preußen kämpfen mit Stahl, nicht mit Holzperlen.“ So hatte er uns süffisant erzählt.

Preußens Gloria

An jenem Nachmittag des 24. Dezember standen wir im Graben, der Schnee fiel leicht und mischte sich mit dem Schlamm. Kein Baum, kein Licht, kein Lied. Nur das ferne Dröhnen der Artillerie, das sich wie ein dumpfer Herzschlag anhörte. Ich spürte plötzlich eine unbändige Sehnsucht. Es war Heiligabend, und keiner sprach ein Wort darüber.

„Herr Leutnant“, sagte ich, die Stimme schüchtern. „Darf ich etwas fragen?“ Er blickte überrascht. „Was denn, Gefreiter Steiner?“ „Vielleicht könnten wir heute Abend ein wenig Weihnachten feiern. Die Männer würden sich freuen. Ein Lied singen, vielleicht …“ Kurzes Schweigen. Dann zog sich sein Mund zu einem spöttischen Lächeln zusammen.

„Ein Lied? Hier draußen? Zwischen Leichen und Ratten? Na, das wäre ja was für die Feldpostkarte.“ „Es wäre nur eine kleine Freude“, entgegnete ich leise.

Ein paar Kameraden blickten auf – manche mit einem schwachen Lächeln, andere mit müden Augen. „Na, dann singen Sie mal, Steiner“, sagte Kranz, und seine Stimme tropfte vor Ironie. „Lassen Sie uns Ihr katholisches Andachtsstück hören.“ Ich zögerte. „Na los!“, brüllte er. – Da begann ich leise zu singen: „Engel auf den Feldern singen, stimmen an ein himmlisch Lied …“ Es war, als ob die Luft um uns still wurde. Ein paar Männer fixierten mich mit ihrem Blick, andere schauten stumm in den Schnee. Als ich zum Kehrvers kam, hob ich die Stimme an: „Gloria in excelsis Deo!“

Da brach Kranz in schneidendes Gelächter aus. „Welch ein Unsinn! Ein katholisches Kinderlied! Vielleicht sollten wir’s dem Kaiser vorsingen, was?“ Keiner lachte mit. Nur der Wind. „Wenn Sie zu viele Kräfte haben, Steiner“, fauchte er weiter, „dann können Sie heute Nacht den Wachdienst draußen übernehmen – zwei Stunden. Da können Sie Ihr Gloria fertig singen.“ Ich schrak zurück, schluckte, schwieg.

Gloria im Niemandsland

Später stand ich draußen vor dem Grabenunterstand, das Gewehr umgehängt, während der Schnee dichter fiel. Es war still. Nur das Knacken von Eis in den Bäumen – selbst die Front war ruhig. Ich sah hinüber zu den Linien, wo die Engländer lagen, vielleicht ein- oder zweihundert Meter entfernt. Manchmal glaubte ich, dort ein Licht flackern zu sehen – vielleicht eine Kerze.

Ich zog den Mantel enger um mich. Die Kälte kroch bis in die Knochen. Und dann, ganz leise, begann ich wieder zu singen – zuerst nur für mich, kaum hörbar, dieses Lied aus meinen Kindertagen. Ich weiß nicht, was in mich fuhr, was mich innerlich so überwältigte. Doch als ich zum Kehrvers kam, wurde meine Stimme lauter. Sie hallte über den Schnee, über das Niemandsland, über Gräben und gefrorene Erde: „Gloria in excelsis Deo!“

Und plötzlich – ich hörte es wirklich – antwortete jemand. Zuerst ganz fern, wie ein Echo. Dann deutlicher. Männerstimmen, viele: „Gloria in excelsis Deo!“ Ich erstarrte. Das war kein Wind. Sie sangen wirklich. Ich rief leise in den Unterstand hinunter: „He, kommt raus! Hört ihr?“ Die Männer traten hinaus, einer nach dem anderen. Sie standen da im Schnee, wortlos, hörten hin. Und sangen schließlich verhalten mit: „Gloria in excelsis Deo!“
Da war kein Krieg mehr. Kein Feind. Nur dieser Gesang, der zwischen uns hin und her schwebte. Bis der Leutnant herbeigestürzt kam, wütend, das Gesicht rot vor Erregung. „Was soll das hier? Sofort aufhören! Steiner, Sie bringen uns alle ins Grab!“ Sein Blick durchbohrte uns. Niemand rührte sich.

Da packte ihn eine Art Wahnsinn. „Wenn Sie singen wollen, dann singen Sie zum Angriff! Alle Mann fertig machen! Gegenstoß auf den feindlichen Graben!“ Wir blickten ihn fassungslos an. Das war ein Selbstmordkommando. Einige überlegten zu protestieren, doch die Anordnung war klar.

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Keiner wollte wegen Befehlsverweigerung erschossen werden. Ich lud mein Gewehr, die Hände zitterten. Wir gingen hinaus, stolperten durch Schnee und Dunkelheit.

Plötzlich erklang wieder das „Gloria"

Der Himmel war schwarz, nur ein schmaler Mondschleier über den lichten Wolken. Es folgten die ersten Schüsse – von uns. Zwei, drei Salven in die Nacht. Keine Antwort. Nur Stille.

Und dann geschah es. Von der anderen Seite, aus den feindlichen Stellungen, erklang plötzlich wieder das Gloria – diesmal noch lauter, noch kräftiger: „Gloria in excelsis Deo …“ Wir blieben stehen. Keiner schoss mehr. Ich ließ mein Gewehr sinken. Dann rief jemand von drüben: „Don’t shoot! We are Christians! Merry Christmas!“ Lichtkegel tauchten auf. Und dann sahen wir sie – britische Soldaten, die im fahlen Mondschein weiße Taschentücher schwenkten. Langsam, vorsichtig traten sie aus dem Graben. Einer trug einen Beutel mit Konserven, ein anderer eine Flasche Whisky in der Hand.

Unser Leutnant stand regungslos da. Niemand gehorchte ihm mehr. Ich ging als Erster nach vorne. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Zwischen uns lag das Niemandsland – zerfurcht, gefroren, gespenstisch. Ich hob die Hände. „Friede!“, rief ich. „Heut ist Heiligabend!“ Ein Schotte kam näher – ein stämmiger Mann mit rotem Schnurrbart, eine Zigarre im Mundwinkel. „Peace, lads – Friede, Jungs“, sagte er und reichte mir eine Dose Corned Beef. Wir standen uns gegenüber – Deutsche, Briten, sogar ein paar Inder mit Turban. Niemand konnte und wollte noch schießen.

Ich sah hinüber zum Leutnant. Er stand abseits, das Gesicht fahl, die Lippen aufeinandergepresst. Schließlich ging er doch langsam zu uns herüber. Keiner wusste, was er tun würde. Aber er blieb stehen, sah in den Sternenhimmel, und plötzlich sah man im Laternenschein, wie er sich so etwas wie eine Träne aus den Augen wischte. „Mein Bruder …“, flüsterte er, „ist gefallen. Vielleicht … vielleicht hat er jetzt Frieden.“ So kannten wir den ungestümen Leutnant gar nicht. Ein Schotte legte ihm die Hand auf die Schulter. „Peace on earth“, sagte er leise.

Ein Augenblick Himmel

Wir blieben bis in die frühen Morgenstunden draußen. Kerzen flackerten in Konservendosen, Whisky und Brot gingen herum. Immer wieder sangen wir Lieder – die Worte flogen in die kalte Nacht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens …“ Ich weiß nicht, wie lange wir so standen. Irgendwann schneite es wieder, ganz leise, als wolle der Himmel selbst uns segnen.

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Der Leutnant setzte sich neben mich auf eine Munitionskiste. „Steiner“, sagte er nach einer Weile, „ich habe den Glauben verloren, bevor ich hierherkam. Ich dachte, Stärke heißt, keine Schwäche zu zeigen. Aber das hier …“ – er sah sich um, auf die Männer, die so froh waren, teilten, sangen. – „Das ist Stärke. Und Frieden.“ Ich nickte. „Nur einer kann Frieden schenken, Herr Leutnant.“ „Ich weiß“, sagte er. „Der, dessen Geburt wir heute feiern.“ Wir schwiegen eine Weile. Dann begann er leise mitzusingen: „Engel auf den Feldern singen …“ Seine Stimme war brüchig, aber rein. Beim Gloria fielen alle Männer ein. Es war, als öffnete sich der Himmel. So deuteten wir dieses Ereignis, das vielleicht einzigartig war in der Grausamkeit dieses Krieges. 

Am nächsten Morgen war alles wieder Krieg. Befehle, Artillerie, Angriff. Doch in mir brannte etwas, das nicht mehr verlöschen konnte. Ich weiß nicht, wie viele von uns die nächsten Wochen überlebt haben. Aber das Gloria blieb. 

Ein Gloria für die Ewigkeit

Einige Tage nach Weihnachten wurde auch der Leutnant tödlich verwundet – direkt neben mir im Schützengraben. Er hatte unerträgliche Schmerzen und vor allem Angst. Was hätte ich junger Kerl ihm schon sagen können? Mir fehlten die Worte. Stattdessen legte ich ihm meinen Rosenkranz in die Hand und sang unser Lied: „Engel auf den Feldern singen …“ Beim Kehrvers bewegte er leicht die Lippen. Ein kleines Lächeln umspielte sein Gesicht, und er wollte mir noch etwas mitteilen: „Steiner, …“ Er sprach den Satz nicht mehr zu Ende. Mir schien, als wollte er noch „Danke“ sagen. Dann starb er – ganz ruhig und friedlich.

Manchmal, wenn ich heute – viele Jahre später – in der Christmette sitze und der Chor das Lob der Engel singt, dann sehe ich uns wieder dort draußen, im Schlamm von Ploegsteert, mit schmutzigen Uniformen und Tränen in den Augen. Und ich weiß: Der Heiland ist geboren. Er allein hat Frieden gebracht – selbst mitten im Krieg.

Als der alte Herr geendet hatte, war es ganz still in der Sakristei. Der Kapuzinerpater trug sein sanftes Lächeln auf den Lippen, und wir Ministranten trauten uns kaum zu atmen. Draußen fiel schon wieder Schnee – genau wie damals, dachte ich. Dann sagte der Greis leise: „Nach dem Krieg habe ich hier in dieser Kirche meine erste Messe in der Heimat mitgefeiert. Soweit es geht, bin ich seitdem jedes Jahr einmal hierhergekommen – auch mit meiner Frau, als sie noch lebte. Und heute … heute wollte ich es endlich einmal erzählen.“ Er sah Pater Bonifaz an, dann uns Buben, und seine Augen glänzten. „Euer lateinisches Gloria in excelsis Deo – es war, als hätte der Himmel noch einmal die Erde berührt. Und ich wusste: Frieden kommt nur von dort.“

Wir haben danach lange kein Wort gesprochen. Aber als wir später die Kerzen löschten, summte ich leise vor mich hin – und wusste, dass ich dieses Lied nie mehr vergessen würde.


Eine Novelle ist kein strenger Tatsachenbericht, sondern eine Erzählgattung, die mit einem sogenannten Dingsymbol – hier dem Gloria – eine Handlung stilistisch verdichtet und dabei historisch plausible, durch Quellen belegte Fakten aufgreift. Der sogenannte „Christmas Truce“, die Weihnachts-Waffenruhe im Kriegsjahr 1914, war ein durch zahlreiche Augenzeugen an verschiedenen Orten der Westfront bezeugtes, einzigartiges Ereignis: Soldaten verfeindeter Nationen sangen gemeinsam Weihnachtslieder, feierten miteinander und spielten sogar Fußball. Mitunter fanden gemeinsame Beerdigungen gefallener Kameraden statt. Für einige Stunden, mancherorts sogar Tage, schwiegen die Waffen anlässlich des Weihnachtsfestes. Im Vorfeld hatte auch Papst Benedikt XV. einen Versuch zur Vermittlung eines Waffenstillstands über Weihnachten unternommen, der zwar nicht von den Regierungen, aber womöglich von einzelnen Soldaten als Impuls aufgegriffen wurde. In den folgenden Kriegsjahren wurde ein solcher Weihnachts-Waffenstillstand von sämtlichen Heeresleitungen unter Androhung schwerster Strafen strikt verboten.

Der Autor ist Mitglied der Ordensgemeinschaft der Servi Jesu et Mariae und ist als Seelsorger in der Familien- und Jugendarbeit tätig.

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