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Ein bedrückendes Kammerspiel

Das Holocaust-Gerichtsdrama „Der Zeuge“ schildert den wahren Kampf eines KZ-Überlebenden um Wiedergutmachung.
Bernd Michael Lade
Foto: IMAGO/Axel Kammerer (www.imago-images.de) | Das kammerspielartige Gerichtsdrama „Der Zeuge“ von Schauspieler und Regisseur Bernd Michael Lade geht komplexen Fragen nach Schuld und Sühne nach.

Wann und wo beginnt Schuld und hört die Unschuld auf? Wie überlebt man in einem unmenschlichen System, ohne selbst zum Unmenschen zu werden? Und: Macht sich mitschuldig, wer aus Feigheit, Angst oder purem Überlebenswillen heraus Teil eines Unrechtssystems wird, um seine eigene Haut zu retten? 

Das kammerspielartige Gerichtsdrama „Der Zeuge“ von Schauspieler und Regisseur Bernd Michael Lade, das aktuell in ausgewählten Kinos läuft, geht diesen und anderen komplexen Fragen nach Schuld und Sühne nach und legt durch viele Fallbeispiele die innere Logik des Nazi-Terrors in den Konzentrationslagern dar. Mit seinem Film auf engstem Raum setzt Lade ein starkes Zeichen gegen das Vergessen und eine deutliche Warnung an unsere Gegenwart.

Ein Kronzeuge berichtet aus der Hölle

Der geborene Schweizer Carl Schrade (gespielt von Lade selbst) sitzt 1946 in einem improvisierten Gerichtssaal des Konzentrationslagers Dachau und sagt als Kronzeuge gegen einige NS-Verbrecher im Flossenbürg-Prozess, aus: Denn er hat die Hölle, die sie schufen, überlebt. Schrade wurde als Juwelenhändler wegen illegaler Geschäfte 1934 von der Gestapo in Berlin verhaftet und verbrachte elf Jahre seines Lebens bis zum Kriegsende als Kleinkrimineller in verschiedenen KZs – zuerst Lichtenburg, dann Esterwegen, später Sachsenhausen und Buchenwald, bis er schließlich in ein KZ im Oberpfälzer Wald abtransportiert wurde. 

Schrade erzählt minutiös von den brutalen Verbrechen der Nazischergen, den täglichen Demütigungen durch die Lagersoldaten und perfiden Arbeitsabläufen im Lager, von den wahllosen Morden und der skrupellosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Denn das Leiden der Häftlinge galt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten als ein Riesengeschäft, an dem sich viele bereicherten. Dabei schildert er auch, wie jeder einzelne der angeklagten Personen aktiv am Vernichtungssystem der Nazis beteiligt war.

Das Unrecht wird doppelt beim Namen genannt

Zwei Dolmetscherinnen und eine englische Protokollführerin befinden sich mit im Saal, um Schrades Ausführungen und die Aussagen der Angeklagten simultan zu übersetzen. Lade nutzt diesen technischen Umstand in seiner bis auf das Notwendigste reduzierten, dokumentarisch wirkenden Inszenierung, um dem Gesagten in der Wiederholung doppelt so viel Gewicht zu verleihen. Was mitunter etwas anstrengend und umständlich wirkt, wenn man als Zuschauer alle Aussagen immer doppelt hört, sorgt im Verlauf der Verhandlung für einen beklemmenden Effekt, da man dadurch keine einzelne Aussage überhört. 

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Die entscheidende Frage über die Glaubwürdigkeit Schrades als Kleinkrimineller und "grüner Kapo" stellt Lade erst kurz vor Schluss seines Films: Als Kapo war Schrade eine Art Aufseher aus den Reihen der Gefangenen – wie konnte er elf Jahre unter den von ihm geschilderten unmenschlichen Bedingungen überleben? Hat er mit den Wölfen geheult, um seine eigene Haut zu retten? Hat er für die NS-Schergen unmenschliche Aufgaben erledigt oder sich selbst Vorteile verschafft auf Kosten anderer und trägt somit eine Mitschuld an den Ereignissen in den KZs? Oder war und blieb er stets ein Opfer des Vernichtungssystems der Nationalsozialisten und hatte Glück im Unglück, dass er stets mit dem Leben davonkam? 

Können Opfer auch Täter sein?

Lade beziehungsweise Schrade beantwortet diese Frage nicht, sondern lässt sie im Gerichtsraum stehen. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es nahezu unmöglich ist, angesichts eines brutalen Systems der Entmenschlichung als einzelnes Individuum komplett menschlich und moralisch unbeschadet zu bleiben. Darauf verweisen auch die Angeklagten selbst, von denen die meisten versuchen die Verantwortung für ihre Taten auf andere zu schieben. Was schon im Paradies bei Adam und Eva anfing, funktioniert auch in einem Gerichtssaal: Sie versuchen sich und ihre Taten zu rechtfertigen, nur die Wenigsten zeigen wirklich Reue. Die meisten berufen sich darauf nur Befehlen gehorcht zu haben oder selber unter massivem Erwartungsdruck seitens ihrer Vorgesetzten und Kameraden gestanden zu haben. Der Wahnsinn hatte Methode. 

„Ich war ein gehorsamer SS-Soldat. Wenn schon in Teufels Küche, dann nur als Koch!“ sagt einer der Angeklagten über die Gründe für seine Handlungen aus. Ein SS-Arzt, der Gefangenen, die über Magenschmerzen klagten, gleich den ganzen Magen entfernt hat, sagt, dass er Operationen an Menschen durchgeführt hat, um sich selbst als eine Art Gott zu fühlen. Diese und andere perfide Äußerungen und Verteidigungsstrategien offenbaren in der Konfrontation mit der eigenen Schuld, menschliche Abgründe vom Rausch der Macht und von der Macht der Sünde, die nicht jeder bereit ist, sich anzuschauen. Können die Zuschauer sich davon freisprechen nicht ähnlich gehandelt zu haben, wie die Angeklagten, wenn bestimmte Bedingungen auch bei ihnen gegeben gewesen wären? Es ist einfach, jemand anderen zu verurteilen, wenn man nicht das Leben des Anderen leben muss und es ist ebenso einfach, für alles eine Ausrede zu finden, wenn man nicht bereit ist Schuld und menschliches Versagen einzugestehen und die Konsequenzen für sein Fehlverhalten zu tragen. Folgerichtig weist der Verteidiger der Angeklagten in seinem Schlussplädoyer die Richter darauf hin, dass diese in dem Prozess über Leben und Tod von Menschen urteilen werden, weil diese Menschen über Leben und Tod bei anderen Menschen geurteilt haben. 

Starke Themen, spröde inszeniert

„Der Zeuge“ bietet wahrlich viel Diskussionsstoff. Auch ist der Gerichtssaal durch die vielen expliziten Schilderungen der Gräueltaten, die in den Konzentrationslagern passiert sind, emotional aufgeladen, aber diese Emotionen kommen sicherlich nicht bei jedem Zuschauer gleichermaßen an. 
Denn mit seiner spröden, wenig zugänglichen Erzählart, der optischen Eintönigkeit, dem ständigen Wechsel von Farbe zu schwarz-weiß und der inszenatorischen Beschränkung auf nur einen Raum, in dem der Film spielt, schleichen sich schnell Ermüdungserscheinungen ein. Lade muss auf ein Kinopublikum setzen, das sich sehr auf seine dokumentarische Art der Inszenierung einlassen kann, viel Interesse an der Materie mitbringt und auch dem anstrengenden Sprachmix aus Englisch und Deutsch ebenso konzentriert folgt wie den sprach- und weitgehend ausdruckslosen Gesichtern der Richter und Angeklagten, die erst im Verlauf von Schrades Aussagen ihre wahren Gefühle nicht immer unterdrücken können. 

Was nach dem Filmende geschah

Dass Carl Schrade als Zeuge keine fiktive Figur ist, sondern die im Film erlebten Schrecken am eigenen Leib erfahren hat, verleiht dem Geschehen eine große Authentizität. Aber auch wenn Schrade ohne Zweifel ein Opfer der Nazis war und seine mögliche Mittäterschaft ungewiss bleibt, so wird er vom Anwalt der Angeklagten doch immer wieder als Verbrecher dargestellt, der seine Strafe, wie jeder andere Kriminelle, in den Lagern mehr als verdient hatte. 

Das führte mitunter dazu, dass der reale Carl Schrade tatsächlich niemals vom Deutschen Staat Entschädigungen erhalten hat, da er nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurde. Zum Glück schrieb Schrade seine Erinnerungen nieder, so dass sie neben den Gerichtsprozessakten einen wichtigen Baustein zur Aufklärung der Verbrechen in der NS-Zeit liefern. 

Nach seinem Tod 1974 in der Schweiz vergingen aber noch vier Jahrzehnte, bis seine Memoiren schließlich auftauchten und 2014 auch auf Deutsch unter dem Titel "Elf Jahre. Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern" als Buch veröffentlicht wurden. Nun wurde sein mutiges Eintreten für die schonungslose Offenlegung der Naziverbrechen auch mit einem Spielfilm gewürdigt. 

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Norbert Fink

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