Basierend auf jahrelanger Recherche und inspiriert von realen Ereignissen, erzählt „Rabia – Der verlorene Traum“ eine erschütternde Geschichte über Verblendung, geistige Unterwerfung und den Verlust der eigenen Identität.
Jessica (Megan Northam) und Leila (Natacha Krief), zwei 19-jährige Pflegekräfte aus Paris, sehnen sich nach Erfüllung. Ihre Arbeit im Seniorenheim empfinden sie als ernüchternd und aussichtslos. Als sie von einem vermeintlichen Paradies in Syrien hören, in dem die IS-Terrormiliz ein Kalifat errichten will, erliegen sie der Täuschung. Mit der Verheißung, auserwählte Kämpferbräute zu werden, kehren sie ihrer Heimat den Rücken – und damit auch einem selbstbestimmten Leben.
Albtraum im Frauenhaus
Im Flugzeug schwelgen die jungen Frauen noch in Zukunftsträumen, doch in Raqqa erwartet sie ein regelrechter Albtraum. Sie geraten in ein sogenanntes „Madafa“, ein von der charismatischen und erbarmungslosen Madame (Lubna Azabal) geleitetes Frauenhaus. Persönliches Hab und Gut, westliche Kleidung und selbst ihre Namen werden ihnen genommen. Aus Jessica wird „Rabia“ – und mit dieser Umwandlung beginnt ihre systematische Indoktrinierung.
Die „Madafas“, die Engelhardt schonungslos und detailgenau realistisch porträtiert, vereinen Kerker, Prostitution und Drill. Frauen werden zu willenlosen Werkzeugen degradiert, ihrer Persönlichkeit beraubt. Diese Einrichtung dient nicht nur als Kulisse, sondern verkörpert auch die perfiden Strukturen despotischer Regime: Herrschaft durch Terror und Manipulation.
Jessica, die zu Beginn des Films noch versucht, ihre westliche Identität zu bewahren, wird schrittweise gebrochen. Als Madame ein heimlich mitgebrachtes Foto ihrer Mutter entdeckt, wird sie gezwungen, es zu vernichten. Ihr innerer Kampf ist greifbar. Ihr widerwilliges Nachgeben markiert den Beginn ihrer vollständigen Selbstaufgabe.
Von Komplizin zur Mittäterin
Mit beklemmender Genauigkeit zeichnet Engelhardt Rabias Wandlung zur Komplizin der Madame nach. Von der Gewalt zunächst abgestoßen, wird sie zur Mittäterin. Agnès Godards Kameraführung mit karger Beleuchtung und bedrohlichen Schatten verstärkt die düstere Atmosphäre. Rabias Ausdruck wandelt sich von Verunsicherung zu eisiger Härte und schließlich zu verbitterter Resignation.
„Rabia – Der verlorene Traum“ geht über die bloße Darstellung religiöser oder politischer Motive hinaus. Engelhardt und ihr Co-Autor Samuel Doux ergründen die psychologischen Triebkräfte, die junge Menschen in extremistische Ideologien treiben. Orientierungslosigkeit, fehlende Anerkennung und mangelnder familiärer Halt sind Kernthemen. Jessica beschreibt ihre Beweggründe schmerzhaft ehrlich: In Frankreich fühlte sie sich als Pflegerin missachtet und bedeutungslos, ja „unsichtbar“. Die Aussicht auf Sinnstiftung in einem neuen System war unwiderstehlich
Engelhardt entlarvt die Strategien des IS-Systems, diese Schwächen auszunutzen. Madames Regime basiert auf einer Art Zuckerbrot und Peitsche, auf einer Mischung aus vermeintlicher Fürsorge und brutaler Unterdrückung. Die Figur der Madame, inspiriert von der realen Fatiha Mejjati, ist dabei nicht nur Jessicas Antagonistin, sondern ein Spiegelbild der zersetzenden Kräfte totalitärer Systeme.
Trotz seiner Verwurzelung im Dschihadismus besitzt der Film universelle Relevanz. „Rabia“ beleuchtet Mechanismen der Manipulation und Indoktrination, die nicht nur im Islamismus, sondern in allen autoritären Regimen zu finden sind. Die Auslöschung von Identitäten, die Schaffung eines Feindbildes und die Verführung durch vermeintliche Ideale – all das sind Themen, die weit über den konkreten Kontext hinausreichen.
Rabia wirft Fragen auf
„Rabia – Der verlorene Traum“ ist ein aufrüttelndes Werk, das keine simplen Antworten liefert, sondern Fragen aufwirft. Es ist ein Film über verlorene Seelen, über Menschen, die in ihrer Suche nach Bedeutung, nach Sinn und Freiheit einem zerstörerischen System verfallen. Megan Northam überzeugt in der Hauptrolle mit nuanciertem, eindringlichem Spiel, das gleichzeitig verstört und fesselt.
Mit bedrückender Bildsprache und einer vielschichtigen Figurenzeichnung gelingt Engelhardt ein eindrückliches Regiedebüt, das sowohl als psychologische Studie einer gebrochenen Frau denn auch als universelle Parabel über die Macht totalitärer Systeme überzeugt.
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