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„Unentgeltlich und öde“ 

Der Publizist Holger Fuß versuchte 2018 ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger zu führen. Thema: 50 Jahre 1968. Enzensberger als rhetorische Orientierungsfigur der Bewegung hatte aber keine Lust und schrieb lieber, warum er kein Interview führen wolle. 
Hans Magnus Enzensberger mochte keine Interviews mehr geben und hat geschrieben, warum.
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Hans Magnus Enzensberger mochte keine Interviews mehr geben und hat geschrieben, warum.

So erinnert sich Fuß: „Woher ich Enzensbergers E-Mail-Adresse hatte, neben der Mobilnummer das Gold des Digitalzeitalters, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls schlug ich ihm in einer E-Mail ein Doppelinterview mit Bettina Röhl vor, die in ihrem RAF-Buch postuliert hat, Achtundsechzig sei zur deutschen Leitkultur der Gegenwart geworden.

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Und diesen Geist von 1968 hatte Hans Magnus Enzensberger maßgeblich mitgeprägt. Dabei war er schon Mitte dreißig als er 1965 die Kulturzeitschrift ,Kursbuch‘ gründete, die sich während der Studentenunruhen gleichsam ,an die Spitze der Revolutionsthetorik‘ setzte, wie es der einstige Straßenkämpfer und später ,Welt‘-Herausgeber Thomas Schmid beschrieb. Enzensberger war für die viel jüngeren Studenten eine Orientierungsfigur, er sah die knapp zwanzig Jahre alte Bundesrepublik auf dem Weg in den Faschismus, erklärte den Kapitalismus und die USA zum Erzübel. Jenes Amerika, dessen Soldaten der Fünfzehnjährige noch als Befreier von der Nazityrannei bejubelt hatte.

Zu alt

Schon am folgenden Vormittag kam Enzensbergers Antwort per E-Mail: ,Bester Herr Fuß, daraus kann leider nichts werden. Für Interviews bin ich zu faul und zu alt; außerdem hängt mir die Beschäftigung mit den sogenannten 68ern zum Hals raus. Mit den besten Grüßen, auch an Frau Röhl – HME‘.“

Fuß ließ aber nicht locker. Bat um ein Einzelinterview.

„Die Antwort lag am nächsten Tag im E-Mail-Postfach. Angehängt war der Mail ein Worddokument, drei Seiten lang, dreispaltig formatiert. Titel: ,Hans Magnus Enzensberger – Warum ich keine Lust habe, interviewt zu werden‘.

Der eigentlich Text umfasste eineinhalb Spalten und wiederholte sich, wohl um sein Genervtsein zu verbildlichen, über drei Seiten hinweg. ,Interviews werden selten bezahlt‘, so Enzensberger. ,Sie werden als kostenlose Reklame für den Autor betrachtet.‘

Mühsame Arbeit

Und: ,Mit der Zeit gewöhnen sich Schriftsteller an, bestimmte Sätze aus ihrem Repertoire zu wiederholen. Das ist kaum zu vermeiden und für alle Beteiligten langweilig.‘ Und dann die Mühsal des Autorisierens! Das ,Interviewopfer‘ müsse das verschriftlichte Gespräch, also ,das, was er gesagt hat, selber redigieren‘. Die Folge sei: ,Wahrscheinlich zieht er es vor, etwas Neues zu schreiben, statt die eigene Rede grammatisch und semantisch zu verbessern, weil die Arbeit mühsam unentgeltlich und öde ist.‘

In der Begleit-Mail hieß es: ,Bester Herr Fuß: tut mir leid, geht aber nicht anders. Schreiben Sie selber was! Beste Grüße – HME‘.“ 
In der „Tagespost“ hat Holger Fuß es nun – fünf Jahre später – gemacht.  DT/mee

Der Publizist Holger Fuß über ein nicht geführtes Interview mit Hans-Magnus Enzensberger. Lesen Sie den ganzen Text in der Ausgabe der „Tagespost“ vom 27. Juli 2023.

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