Es war im Jahr 2016. Die Tür zum Festsaal öffnete sich und die illustre Schar der Gäste einer populären katholischen Adeligen strömten stilvoll hinein: konservative Publizisten, traditionsbewusste Kirchenleute, elegante Gesellschaftslöwen. Fast schüchtern und geradezu dezent ließ sich auch ein älterer Herr mit grauem Haar in den Saal treiben: der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Ernst Jünger und Joseph Ratzinger wirkte. „Sie sind auch hier, Herr Enzensberger?“ „Jaja“, antwortete er leise und lächelte danach etwas schelmisch. Als sei seine Teilnahme allein aufgrund dieses Überraschungs-Effektes richtig.
„So überrascht es nicht, dass die Dresdner Theologin Ulrike Irrgang,
die über ‚Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers‘ promoviert hat,
im lyrischen Werk des Dichters metaphysische Spuren gefunden hat.“
Tatsächlich hat es Enzensberger, der am vergangenen Donnerstag im Alter von 93 Jahren verstorben ist, während seiner langen Karriere als Dichter und Denker stets verstanden, das Publikum zu überraschen und sich allzu engen Schubladenzuordnungen zu entziehen, auch wenn er aufgrund seiner frühen Gedichte wie „die verteidigung der wölfe“ (1957), die schnell Schulstoff wurden, für viele nachhaltig zum linken Rebellen der neugegründeten Bundesrepublik wurde. Zum engagierten Gegner staatlicher Unterdrückungsapparate und totalitär wirkender Medien.
Doch auch wenn Enzensberger, der über den katholischen Dichter Clemens Brentano promoviert hat und selbst aus einem katholischen Haushalt kam, später anti-demokratische Tendenzen bei Konzernen, Nachrichtendiensten und Amerika-hörigen Regierungen verortete und damit gefährlich nah ans spätere „Querdenker“-Milieu herantrat, im Grunde war er wohl doch, wie der frühere „Welt“-Herausgeber Thomas Schmid richtig konstatiert hat, ein „Spieler“, ein „Ästhet“. Was heißen soll: ein freier Geist, kein Mitläufer, kein „Opportunist“. Dafür liebte dieser gebildete, enorm polyglotte und früh mit Preisen ausgezeichnete Mann die feinen Nuancen der Sprache und der Wirklichkeit auch zu sehr, ebenso die Kraft des Zweifels, der – wenn er echt ist – immer auch Selbstzweifel miteinschließt.
Gott lässt die Menschen nie in Ruhe - und umgekehrt
So überrascht es nicht, dass die Dresdner Theologin Ulrike Irrgang, die über „Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers“ promoviert hat, im lyrischen Werk des Dichters metaphysische Spuren gefunden hat. Verborgen – oder vielleicht sollte man besser sagen – geschützt durch scheinbar alltägliche Beschreibungen, Alltagsbeobachtungen. Wie etwa im Gedicht „Tagesordnung“, in dem der Dichter ganz lapidar fragt, „warum Gott die Menschen niemals in Ruhe lässt, umgekehrt auch nicht“.
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