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Mythos Kulturrevolution

Ein kritischer Blick auf die 68er-Bewegung und deren Nachwirken in unserer Gesellschaft. Von Katrin Krips-Schmidt

Der Epoche, die unter der Chiffre „1968“ ein ganzes Panorama an Erinnerungen evoziert, ja geradezu heraufbeschwört, ist in diesem Jahr hinreichend gedacht worden. Zumeist in hoch wertschätzender, wenn nicht gar lobhudelnder Form. Angeblich wurden mit Studentenbewegung und neuen demokratischen Aufbrüchen die bösen Geister der Vergangenheit gebannt. Noch heute wähnt man „Unter den Talaren, Muff von 1 000 Jahren“, wie es einer der Sponti-Sprüche der Sechzigerjahre kundtat. Den 68ern sei es gelungen, so hieß es in den Elogen zum 50. „Jubiläum“, gegen bisher unhinterfragbare und unhinterfragte Autoritäten aufzubegehren und damit einen gar nicht genug zu schätzenden Beitrag zur heutigen Zivilgesellschaft geleistet zu haben. Selbst konservative Medien überschlugen sich in ihren Kommentaren vor anerkennenden Worten darüber, wie sehr die „Kulturrevolution“ ganzen Bevölkerungsgruppen, wie etwa den Frauen, handfeste Vorteile gebracht hätten.

Ganz anders betrachtet und kritisiert Josef Kraus die Ereignisse von 1968 und folgender Jahre von einer differenzierten Perspektive aus. „50 Jahre Umerziehung“ lautet der Titel des neuesten Werkes des Gymnasiallehrers und ehemaligen Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes. Der Untertitel „Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“ verweist dann auch auf das, worum es dem Autor geht: um das Sezieren, neudeutsch würde man es als „Dekonstruktion“ bezeichnen, des Phänomens „68“, um nicht zu sagen: des bis heute ungebrochenen Mythos.

Ein Erbe der Entgrenzung und Orientierungslosigkeit

Schließlich hat der 69-Jährige die kulturellen und politischen Umbrüche, die seit einem halben Jahrhundert praktisch alle Bereiche der Gesellschaft erreicht und zum Teil fundamental umgewälzt haben, hautnah miterlebt. Und so fällt seine Bilanz denkbar negativ aus: Viele Andersdenkende hätten „die Erfahrung eines ,linken Faschismus‘ und einer erschreckenden Intoleranz“ machen müssen, „wie sie auch heute wieder von der ,Antifa‘ praktiziert wird. Die 68er Enkelmentalität der ,political correctness‘ definiert fünfzig Jahre später tagtäglich, was zu tolerieren und was nicht zu tolerieren ist. Dass die 68er Bewegung fünfzig Jahre Umerziehung zu verantworten hat, Bildungsabbau, ja Entgrenzung in allen Lebensbereichen bis hin zu Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit, wird weniger artikuliert.“ Je weiter man bei der Lektüre vor-anschreitet, umso mehr wird bewusst, welche Aspekte des damaligen wie des heutigen Lebens ganz von einer Ideologie durchdrungen sind. Quasi unausweichlich stehen wir überall den Auswirkungen der 68er-Revolution gegenüber. Allgegenwärtig erleben wir, was die Kulturrevolutionäre aus Schule („Pädagogischer Egalitarismus und Egalisierungsflop Einheitsschule“, „No-Education und Spaßpädagogik“), Familie und Erziehung gemacht haben.

Eine weitere Folge der „Umerziehung“ ist das Aufkommen der „political correctness“, deren Sprach- und Gesinnungsdiktate Kraus als „Erbe von 68“ bezeichnet und als „Versuch, Definitionshoheit wiederzugewinnen“ deutet. Dazu zitiert er den Kulturwissenschaftler Frank Böckelmann: „Der Jargon der Achtundsechziger scheint heute so widerspruchslos zu dominieren, dass er als Resultat einer Machtergreifung gar nicht mehr erkennbar ist.“ Was Kraus mit einem einfachen Beispiel belegt: „Was für ein guter Mensch man ist, das zeigt man anderen nicht mehr dadurch, dass man etwas tut, sondern dadurch, dass man etwas sagt, etwa: ,Rechts ist pfui‘, ,Ich bin für Willkommenskultur‘. Damit ist man zwar nichts anderes als spießig, aber weil man habituell links ist, wird man zum ,Querdenker‘ geadelt. Man gibt sich mittels konformer, korrekter Sprache betont nonkonformistisch – und ist mit seinem Anti-Konformismus doch nichts anderes als pure Konformität.“

Sehr lesenswert ist auch das Kapitel über die „Politisierung und Linksverschiebung“ der Kirchen in Deutschland unter der Überschrift „Die Kirchen als Moralagenturen?“ Denn wer sich 20 Jahre nach dem letzten Weltkrieg noch geborgen in seiner Kirche fühlen konnte, wird spätestens seit 68 gewahr, wie sich die Kirchen als Sachwalter linker Ideologien gerieren.

Kraus belässt es aber nicht bei einer Bestandsaufnahme. So analysiert er Beweggründe und Befindlichkeiten der Akteure und benennt die ideologischen Hintergründe der 68er-Adepten. Auch dass die „Aufarbeitung und Liberalisierung auch ohne ,68‘“ (wie etwa die Aufklärung von NS Verbrechen) vonstatten ging, dürfte im Bewusstsein vieler nach dem, was die deutschen Leitmedien gebetsmühlenartig verkünden, nicht unbedingt verankert sein. Besonders herausgestellt werden zudem die Schnittmengen der Bewegung mit den Totalitarismen der Moderne.

Spielarten und Variationen der 68-Ideologie heute

Die Gelehrsamkeit des Autors führt uns durch eine umfassende Literaturliste, so dass dies den Blick auf eine Unzahl weiterer Schriften öffnet – ob der Sachbuch- oder Belletristiksparte entnommen –, die eine zusätzliche Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten der behandelten Materie erlauben und in ihrer Gesamtheit noch einmal in den Endnoten aufgelistet sind. Kraus' Neuerscheinung ist ein äußerst hilfreiches und umfassendes Kompendium zu der Frage: Wer sind die 68er? Wie haben sie es geschafft, den Marsch durch die Institutionen so erfolgreich zu absolvieren? Wer sind die Akteure, wer die Kritiker? Und schließlich: In welchen Spielarten und Variationen verbirgt sich die Ideologie der Kulturrevolution noch heute, wo wir sie als solche gar nicht mehr wahrnehmen? Man wünscht dem Band viele, vor allem jüngere, Leser. Denn der Autor versteht es, Ereignisse, Zusammenhänge und Auswirkungen der Revolution von '68 in verständlicher Sprache auch denjenigen nahezubringen, die in den Sechzigern noch nicht geboren oder noch zu jung waren, um diese Zeit mit wachem Geist mitzuerleben.

Josef Kraus: 50 Jahre Umerziehung. Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Manuscriptum Verlag, Berlin 2018, 190 Seiten, ISBN 978-3-94487-

281-0, EUR 19,90

Themen & Autoren
Demokratie Josef Kraus Mythen Studentenbewegung

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