„Homers Odyssee wurde zuletzt 1954 für das Kino adaptiert. Das ist jetzt über 70 Jahre her“, so Regisseur Uberto Pasolini im Gespräch mit der Tagespost. Für die Realisierung seiner Neuinterpretation hat er selbst „30 Jahre gebraucht und damit deutlich länger als Odysseus für seine Heimkehr!“ Ursprünglich wollte er den Film nur schreiben und produzieren, doch Ralph Fiennes, mit dem er sich über das Projekt schon einige Jahre unterhalten hat, schlug ihm vor, die Regie zu übernehmen, während er die Hauptrolle des Odysseus spielen wollte und Juliette Binoche die Rolle seiner Ehefrau Penelope angeboten wurde. Damit konnte das Paar aus „Der englische Patient“ (1996) nach fast 30 Jahren wieder auf der Leinwand vereint werden.
Pasolinis Adaption ist eine stille und psychologisch dichte Verfilmung der letzten Kapitel von Homers epischem Meisterwerk geworden. Er präsentiert uns ein modernes Drama über Kriegstraumata und die Odyssee des menschlichen Geistes. Nach dem zehnjährigen Trojanischen Krieg und einer zehnjährigen Abenteuerfahrt durch die Ägäis strandet der erschöpfte und geschundene Odysseus an der Küste von Ithaka. Er ist nackt, ausgezehrt, seelisch zerrüttet und äußerlich nicht mehr wiederzuerkennen. Der einst mächtige König ist endlich nach Hause zurückgekehrt, aber in seinem Königreich hat sich viel verändert, seit er in den Krieg gegen Troja gezogen ist. Seine Gemahlin Penelope ist nun eine Gefangene in ihrem eigenen Palast, bedrängt vom Verlangen ihrer vielen ehrgeizigen Verehrer, einen von ihnen endlich zum neuen Ehemann und König zu erwählen. Doch Penelope zögert, denn sie glaubt an die Rückkehr ihres Mannes.
Antike Charaktere mit modernen Herausforderungen
Ihr Sohn Telemachos (Charlie Plummer), der ohne Vater aufwachsen musste, hat Angst vor den Verehrern seiner Mutter, die ihn als Hindernis in ihrem Streben nach dem Königsthron betrachten. Aber auch Odysseus hat sich verändert. Gezeichnet von seinen Kriegserfahrungen, ist er nicht mehr der große Krieger, an den sich sein Volk erinnert. Fortan ist er gezwungen, sich seiner Vergangenheit zu stellen und die Kraft wiederzufinden, die er braucht, um seine Familie und sein Königreich zu retten. Pasolinis Version zeigt uns antike Charaktere mit modernen, äußeren und inneren Konflikten. Er gibt dem 3.000 Jahre alten Epos eine neue Perspektive, die allerlei Bezüge zu unserer heutigen Zeit aufweist. Bei ihm gibt es keine Götter oder mythischen Wesen, die das Schicksal lenken. Odysseus’ Rückkehr nach Ithaka dauerte so lange, weil er sich geschämt hat, all seine Gefährten verloren zu haben und die Gräueltaten, welche er in Troja begangen hat, nicht vergessen kann.
Als der Kriegsheimkehrer einigen örtlichen Schweinehirten von der Belagerung Trojas erzählt und wie er und seine Soldaten die Stadt samt Frauen und Kindern in Blut getränkt haben, merkt man den Abgrund, der zwischen jenen klafft, die sich an Gewalterzählungen ergötzen, und demjenigen, der wirklich dabei war. Pasolini entdeckt in der poetischen Essenz der klassischen Geschichte moderne Anknüpfungspunkte, ohne dass dies auf den Zuschauer wie ein interpretatorischer Gewaltakt wirkt. Ihn interessiert nicht die sensationslüsterne Ausschmückung homerischer Heldentaten gegen mythische Götter, Zyklopen und andere monströse Ungeheuer. Er stellt die seelischen Wunden des von Schuld, Scham und tiefer Trauer gezeichneten Odysseus in den Mittelpunkt und zeigt, „dass ein Krieg letztlich keine Helden kennt, sondern alle traumatisiert, sowohl diejenigen, die gegeneinander gekämpft haben, als auch diejenigen, die zu Hause geblieben sind“, so Pasolini.
Eine Parabel über die Sinnlosigkeit des Krieges
Durch die auf das Nötigste stilisierte und reduzierte Inszenierung sowie die dadurch umso intensiver agierenden Hauptdarsteller wandelt sich das Abenteuer-Epos zu einem intimen Familiendrama. Juliette Binoche und Ralph Fiennes verkörpern ihre jeweiligen Rollen mit einer starken physischen Präsenz und einer so feinen Genauigkeit in ihren Gesten, Blicken und Gebärden, dass aus ihrem Schauspiel ein intensives Kammerspiel wird. In diesem geht es vor allem um Odysseus’ Psyche, um Schuld und Verantwortung, den Umgang mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die Suche nach Erlösung und Vergebung sowie die Mühsal innerer Heilung. Pasolinis Adaption ist eine erschütternde Parabel über die Sinnlosigkeit des Krieges und die tieftraurigen Verwüstungen, die ein Krieg in den Seelen aller Beteiligten hinterlässt. Dabei wird der Film von einer ständig wachsenden Spannung getragen, was auch den stimmungsvollen Aufnahmen von Kameramann Marius Panduru sowie der einfühlsamen Filmmusik von Oscarpreisträgerin Rachel Portman zu verdanken ist.
Das präzise Drehbuch, das Pasolini zusammen mit John Collee und Edward Bond verfasst hat, setzt zudem auf limitierte, aber umso schärfere Dialoge. Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Die Lage eskaliert bis zum Blutbad. Hier folgt Pasolini durchaus der literarischen Vorlage, obwohl er sich sonst an vielen Stellen erzählerische Freiheiten nimmt. Er wollte mit seinem Werk „Homers Geist in die heutige Welt tragen und einer jungen Generation bekanntmachen“, und das ist ihm auch gelungen. Beim Schreiben des Drehbuchs hat er sich öfter gefragt: „Habe ich in meinem Leben die richtigen Entscheidungen getroffen?“ Dass es von Pasolini die richtige Entscheidung war, den Film nicht nur zu schreiben und zu produzieren, sondern auch zu inszenieren, war eine sehr gute Entscheidung. Ob man Gleiches von Christopher Nolans „The Odyssee“ wird sagen können, werden wir im Sommer 2026 erfahren, wenn seine langersehnte Homer-Adaption ins Kino kommt.
Der Autor ist Geistlicher im Erzbistum Köln und schreibt zu Film und Gegenwartskultur.
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